Der Augensammler
desto besser, was Psychologen damit begründeten, dass man bei seinem Gegenüber seit jeher als Erstes auf den Kopf achtete und dort vor allem auf die Haarpracht. Nicht ohne Grund gehen viele unserer im Mittelalter entstandenen Nachnamen auf Spitznamen bezüglich Farbe, Form und Wuchs der Haare zurück. So wie Kraus, Roth oder Rabe etwa.
Mit neunzehn hatte sich Alina zum ersten Mal den Schädel kahlgeschoren und ihre Freunde mit einer langen Schwarzhaarperücke verblüfft. Mittlerweile besaß sie rund fünfzig unterschiedliche »Masken«, mit denen sie sich je nach Stimmungslage in ein wasserstoffblondes Technopüppchen, in eine schwarzhaarige Domina oder eine zöpfchentragende Unschuld vom Lande verwandeln konnte. Und heute war mir eben nach Manga-Punk, dachte sie, während sie sich auf dem Weg durch den langen Flur nach und nach ihrer Pullover entledigte. Ihre Maisonette-Wohnung erstreckte sich über den fünften und sechsten Stock des Altbaus und war mit dem Fahrstuhl erreichbar. Früher, als sie sich noch nicht so sicher gefühlt hatte, hatte sie diesen immer benutzt, um in ihre Praxisräume im unteren Stockwerk zu gelangen. Mittlerweile nahm sie meist die schmale Wendeltreppe nach unten.
Alina streifte sich ihr T-Shirt über die dünnen Schultern und ging mit nacktem Oberkörper zum Badezimmer. Wie bei den meisten sehbehinderten Menschen hatte alles seinen festen Platz. Tische, Stühle, Kommoden, Vasen ... Die Putzfrau hatte die Anweisung, nichts zu verstellen, und sie musste jeden Krümel vom Boden saugen. Alina liebte es, barfuß über das Parkett zu wandern, aber sie hasste die Vorstellung, sich etwas einzutreten.
Alles ist beschissen gelaufen, dachte sie. Nicht, weil ihr niemand geglaubt hatte. Nicht, weil sie mehreren Patienten abgesagt hatte, nur um diese nutzlosen Wege auf sich zu nehmen.
Sondern weil ich dem Kind nicht helfen konnte.
Das leise Ticken der alten Standuhr verriet ihr, dass sie die Balustrade über dem Empfangsbereich ihrer Praxis passierte.
Oder den Kindern.
Sie überlegte, weshalb sie nur ein Kind - den Jungen - gesehen hatte, und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass das Mädchen vielleicht schon nicht mehr am Leben war. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Visionen nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprachen. Nicht das erste Mal, dass sie an ihrer Gabe zu verzweifeln drohte. Normalerweise umfassten ihre Flashs nur eine Zeitspanne von wenigen Sekunden. Kurze Sequenzen, in denen sie Unfälle sah, blutgetränkte Betttücher, den Arm ihres Vaters, der langsam einen jungen Mann erstickt, oder die Hände ihrer Mutter, die Rattengift im Babybrei verrührt. Die qualvollen Visionen kamen unregelmäßig und längst nicht jedes Mal, wenn sie jemanden berührte. Daher vermutete sie, dass es nur bei Menschen geschah, die mit einem hohen Maß an negativer Energie aufgeladen waren, so wie der Kommilitone, der auf einer Studentenfeier zudringlich geworden war und ihr sogar ins Gesicht schlug, als sie sich weigerte, mit ihm zu schlafen. Er ließ erst von ihr ab, als sie ihm sagte, er solle endlich aufhören, seine Schwester zu vergewaltigen. Sie informierte sofort die Polizei über ihren Verdacht, aber man glaubte ihr nicht, bis man die Leiche des jungen Mannes fand, der sich auf dem Dachboden erhängt hatte - nicht ohne zuvor ein letztes Mal seine Schwester geschändet zu haben. Der Flur wurde breiter, und sie blieb stehen, als es etwas heller um sie herum wurde.
Wie jedes Mal drehte sie sich zur Wand und berührte mit den Fingern die glatte Oberfläche, die das Licht reflektierte, das sie im Bad gegenüber stets brennen ließ.
Tag und Nacht.
Die meisten ihrer Besucher wunderten sich über die lichtdurchfluteten Zimmer und die vielen Spiegel in ihrer Wohnung, genauso, wie sie sich fragten, weshalb in ihrem Wohnzimmer eine zwei mal zwei Meter große Fotografie einer verlassenen amerikanischen Goldgräberstadt hing. Ein verflossener Liebhaber hatte ihr das bronzestichige Meisterwerk Michael von Hassels einmal so eindringlich beschrieben, dass sie den Staub des verfallenen Saloons auf ihrer Zunge zu schmecken glaubte. Und jetzt hörte sie das Bild, wann immer Besucher bewundernd davor stehen blieben und sich fragten, mit welcher Technik der Künstler dieses atemberaubende Werk geschaffen hatte. Was die Spiegel anging, so mochte Alina das kalte, vollkommene Gefühl unter den Fingerspitzen. Und sie liebte die Wahrnehmung der Reflexion, den Beweis ihrer HellDunkel-Empfindlichkeit. Der
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