Der Augensammler
geschlossenen Augen sah sie aus wie ein junges Mädchen, das beim Abschied auf den Kuss ihres Liebsten hofft. Ich wandte mich ab und starrte mir direkt ins Gesicht.
Es war keine Täuschung.
Das Bild im Fernseher hatte sich schon einmal kurz verändert, als das Pärchen an der Galerie vorbeigelaufen war. Und eben, als Frank sich umdrehte, hatte ich es zum ersten Mal bewusst registriert.
Die Kunstinstallation filmt die Passanten! »Also was ist, Mr. Starreporter? Kommen Sie noch auf einen Drink mit hoch?«, fragte Alina, jetzt schon etwas ungeduldiger.
Ich griff mir in den Nacken, wunderte mich kurz darüber, dass mir der Kopf nicht mehr weh tat, und erinnerte mich dann an die Maxalt, die ich geschluckt hatte. Die Perspektive, aus der ich mich selbst auf dem Bildschirm sah, ließ nur den logischen Schluss zu, dass die Kamera schräg über meinem Kopf angebracht sein musste, und tatsächlich entdeckte ich die blinkende Leuchtdiode in einem spitzen Winkel links über mir an der Decke der Galerie. Als Nächstes trat ich einen Schritt zur Seite, dann noch einen, so lange, bis ich aus dem Sichtfeld der Kamera verschwunden war. Es dauerte nur zwei Sekunden, dann schneite es wieder auf dem Bildschirm. »Na dann, danke für das Gespräch«, sagte Alina, doch ich ignorierte sie weiterhin.
Stattdessen testete ich den Bewegungsmelder erneut, um meinen Verdacht zu überprüfen. Dazu ging ich wieder nach rechts, und wieder reagierte der Fernseher. »Wann war der Augensammler gestern bei Ihnen, Alina?«, fragte ich atemlos, doch jetzt war sie es, die mir keine Antwort mehr gab.
Als ich zum Hauseingang sah, waren Alina und TomTom im Treppenhaus verschwunden.
50. Kapitel
(Noch 8 Stunden und 25 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alina Gregoriev
Zu Hause. Der Geruch ihrer Wohnung war das erste beruhigende Erlebnis seit Stunden. Diese vertraute Mischung, die sich aus den Düften der einzelnen Zimmer speiste: der Geruch des vor Stunden frisch aufgebrühten Kaffees lag ebenso in der Luft wie der ihres teuren Parfums und des billigen Essigreinigers, auf den ihre Haushaltshilfe schwor. Heute war Donnerstag, also hatte die Putzfrau in ihrer Abwesenheit den Duft der angestaubten Bücher im Wohnzimmer durch den frisch gewaschener Wäsche ersetzt.
Alina atmete tief durch und lächelte. Und sie hat ausnahmsweise einmal nicht geraucht. »Komm her, Kleiner, gleich gibt's was zu essen.« Sie befreite TomTom von seinem Geschirr, dann kniete sie sich hin, um den Reißverschluss ihrer Stiefel zu öffnen. Dabei fragte sie sich, ob die Anderen auch immer kurz in der Wohnungstür innehielten und mehrmals tief durchatmeten, bevor sie die Garderobe ablegten. Die Anderen.
Zeit ihres Lebens hatte sie sich bemüht, keine Sonderbehandlung zu erfahren, weder im Kindergarten noch in der Schule und erst recht nicht später in der Ausbildung. Ihr Wunsch, ein ganz normaler Teil der Gemeinschaft zu sein, war so weit gegangen, dass sie sich einst als Schülerlotsin beworben hatte; eine Kuriosität, die damals sogar den Weg in das kleine Lokalblatt der kalifornischen Gemeinde gefunden hatte. Natürlich war ihr Gesuch vom Schulleiter abschlägig beschieden worden, aber zumindest hatte sie ihrer besten, sehenden Freundin assistieren dürfen. Noch heute war Alina davon überzeugt, dass sie es auch alleine geschafft hätte. Sie konnte heraushören, ob sich ein Fahrzeug näherte und - noch wichtiger - ob es beschleunigte oder abbremste. Etwas, was die Anderen sich meist gar nicht vorstellen können.
Die Anderen, die einen ungefragt am Arm packen und über die Straße führen, obwohl man im Mobilitätstraining gelernt hat, wie man sich ohne fremde Hilfe fortbewegt. Die Anderen, die denken, Blinde würden einem Fremden ins Gesicht fassen wollen, um ihn zu erkennen, was verdammt noch mal nur in bescheuerten Hollywood-Kitschfilmen vorkommt.
Die Anderen, zu denen ich nie gehören werde. Alina stellte ihren Rucksack ab, dann löste sie die rote Rastalockenperücke vom Kopf und legte sie auf die Kommode, in der sie auch alle anderen Perücken aufbewahrte; ihre »Masken«, wie sie sie nannte.
Eine Reportage über Zeugenaussagen, die sie vor vielen Jahren zufällig im Fernsehen gesehen hatte (kein Blinder sagt »Fernsehen hören«), hatte ihr deutlich gemacht, welche Signalwirkung von der Frisur ausging und wie sehr sie den Menschen charakterisierte. Bei einer Täterbeschreibung konnten sich die Befragten am ehesten noch an die Haare erinnern; je auffälliger,
Weitere Kostenlose Bücher