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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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letzte Rest, der sie mit der Welt der Anderen seit der Explosion noch verband. Außerdem hatte sie oft genug sehende Gäste im Haus. Sie streifte ihre Hose zusammen mit ihrem Slip nach unten, zog sich auch die Socken aus und stand nun nackt vor dem Wandspiegel.
    Ein leichter Zug wehte um ihre Knöchel, und sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Sie fasste sich an den Kopf, fuhr mit dem Zeigefinger die Rillen des Labyrinths nach, die ihr der Friseur auf ihren Wunsch in den rasierten Schädel gefräst hatte. Dann ließ sie die Hand vom Hinterkopf in den Nacken gleiten und fühlte die Irritation ihrer tätowierten Haut. Dabei trat sie ganz nah an den Spiegel, wie immer in der albernen Hoffnung, wenigstens die Umrisse ihrer Figur erkennen zu können, nur ein einziges Mal, nur für den Bruchteil einer Sekunde, damit sie das Bild überprüfen konnte, das sie Tag für Tag durch ihre Berührungen zeichnete.
    Sie wusste, ihre Brüste waren zu klein für den Geschmack der meisten Männer, dafür waren sie fest und brauchten keinen BH. Die Warzen schienen einiges wieder wettzumachen, denn alle ihre bisherigen Liebhaber hatten eine halbe Ewigkeit damit verbracht, sie zu streicheln, zu drücken oder an ihnen zu saugen. Männer wie Frauen. Nur gut, dass es auch ihre erogenste Zone war, von den Füßen einmal abgesehen.
    Alinas Hand glitt zu ihrem Bauch, streichelte das Nabelpiercing und wanderte zu ihrer Hüfte. »Wenn du ein Auto wärst, wärst du ein 68er Mustang«, hatte John einmal gescherzt. Sie lief oft nackt vor ihm durch die Wohnung, einfach deshalb, weil sie sich ohne Kleidung wohler fühlte, und vor John musste sie sich nicht verstellen. »Eckig und kompakt, aber von zeitloser Eleganz.« Sie hatte keine Vorstellung von diesem Auto, empfand es jedoch als süßes Kompliment, zumal ihr Vater früher auch immer einen Ford gefahren hatte. Ach John.
    Zu dumm, dass er gerade mit seinem Freund im Urlaub war. Noch dazu auf einer Rucksacktour durch Vietnam, wo sie ihn nicht einfach mal so anrufen konnte, um ihm die Ohren vollzuheulen. Sie überlegte, wie spät es jetzt in New York war, wo Ivan lebte, und fragte sich, wie er auf einen Anruf seiner großen Schwester reagieren würde. Nachdem sie aus den USA nach Deutschland gezogen war, hatten sie es einfach nicht geschafft, den Kontakt zu halten. Sie liebten sich, kein Zweifel, und die jährlichen Geburtstags- und Weihnachtskarten kamen von Herzen. Aber es blieben die einzigen Lebenszeichen, die sie mittlerweile noch austauschten.
    Keine gesunde Basis, um den Horror zu teilen, den ich gerade durchmache.
    Alina drehte sich zum Badezimmer. Sie hatte im Baumarkt die leuchtkräftigsten Halogenleuchten ausgewählt. John beschwerte sich immer über die »Verhörstrahler«, wenn er bei ihr übernachtete. Für sie hingegen erzeugten die Dinger nicht mehr als eine müde Erinnerung an Licht. Außerdem waren sie ihr eine große Orientierungshilfe, wenn sie beim Schminken ganz dicht vor den Spiegelschrank trat. Ihre beste Freundin hatte ihr gezeigt, wie sie es richtig machte, nur das mit dem verdammten Kajalstrich würde sie in diesem Leben nicht mehr hinbekommen. Sie bückte sich, um die ausgezogenen Klamotten einzusammeln, und ging ins Bad. Während sie Wasser in die Wanne einließ, überprüfte sie mit einem Farberkenner, ob sie heute Morgen nach dem bunten oder dem weißen T-Shirt gegriffen hatte. »Weiß«, sagte eine helle elektronische Stimme. Das kleine Gerät, das einen Lichtstrahl auf ihre Kleidungsstücke abfeuerte und anhand der Reflexion die Farbe bestimmte, war neben dem Internet eine der besten Erfindungen.
    Zumindest für Blinde, denen es nicht gleichgültig war, ob ihre weiße Bluse einen Grünstich hatte, weil man wieder die Buntwäsche mit den weißen Sachen zusammen in die Trommel gefeuert hatte.
    Als sie auch Socken und Slip bestimmt und in den entsprechenden Korb neben der Toilette geworfen hatte, ging sie wieder auf den Flur hinaus und schloss die Badezimmertür hinter sich. Das Rauschen des Wassers, das in die frei stehende Emaillewanne donnerte, nahm sie nur noch gedämpft auf ihrem Weg in die Küche wahr, wo sie TomToms Napf mit zwei Händen Trockenfutter füllen wollte.
    Doch bis dahin sollte sie nicht mehr kommen. Zwei Schritte später stieß ihr Fuß auf etwas Warmes. Etwas Weiches.
    »Nanu?«, fragte sie und gab dem Retriever lächelnd einen kleinen Stups mit den Zehenspitzen. Doch TomTom wich keinen Zentimeter von der Stelle, stattdessen spannte sich sein

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