Der Augensammler
schon wieder jubeln, doch ebenso schnell, wie seine Lebensgeister erwacht waren, erstarben sie auch schon wieder, als er die Plastikfolie über seinem Kopf spürte. Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten. Wie gewonnen, so zerronnen.
Er hatte den Reißverschluss geöffnet, aber nicht die gummiartige Hülle, in die er ganz offensichtlich eingeschweißt war. Deretwegen er kaum noch Luft bekam. Er bohrte den Zeigefinger in die Folie, spürte, wie sie nachgab, aber nicht zerriss. Wie ein ausgespuckter Kaugummi, den man sich von der Schuhsohle kratzen will und der dabei Fäden zieht, aber nicht zerreißt.
Tobias schossen Tränen in die Augen. Er schluchzte, schrie nach seiner Mutter.
Nicht nach Papa, dem alten Arsch. Aber Mama. Mama sollte jetzt hier sein.
Mit der Kraft der Verzweiflung packte er die beiden Hälften der Stofflaschen über sich ...
Das ist eine Tasche! Ich stecke in einer zugeschweißten Tasche.
... und riss sie jeweils in die entgegengesetzte Richtung. Einmal, zweimal. Beim dritten Mal schrie er und übertönte damit das leise Knirschen. Verdammte Scheiße, tatsächlich!
Die Wände waren weg! Ganz plötzlich. Er sah es nicht, er fühlte es auch nicht, aber er konnte es riechen. Denn die Luft war . ... anders.
Tobias hörte sich immer noch so an, als würde er schreien, nur dass die gutturalen, pfeifenden Laute jetzt beim Einatmen entstanden.
Er stemmte sich auf die Ellbogen. Der Kopf war jetzt befreit; er konnte sich mit dem gesamten Oberkörper aufsetzen.
Gierig sog er die Luft ein, die zwar immer noch dünn, aber wesentlich gehaltvoller war als in dem Ding, in dem er bisher gesteckt hatte.
Doch nachdem sich die erste Euphorie gelegt hatte, fühlte er sich elender als noch wenige Minuten zuvor.
Wo bin ich jetzt?
Er kroch auf allen vieren über das Behältnis, das ihn bis eben noch gefangen gehalten hatte. Das erste Gefängnis war er los. Und nun?
Er versuchte aufzustehen, hielt sich auf beiden Beinen, wenn auch nur für wenige Sekunden, so kraftlos war er. Dann stürzte er wieder.
Alles, was er beim Fallen von seiner neuen Umgebung wahrnahm, war, dass er immer noch nichts sehen konnte. Gar nichts. Hier, wo immer hier jetzt war, war es genauso dunkel wie zuvor.
Schwarz. Es hat sich nichts verändert. Außer vielleicht, dass das neue Verlies jetzt etwas höher war, denn er hatte sich vollkommen aufrichten können. Und die Wände sind nicht mehr weich, dachte Tobias noch. Dann schlug sein Kopf auf den Holzboden.
44. Kapitel
(Noch 7 Stunden und 24 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
Er ist tot.
Das war mein erster Gedanke. Mein zweiter beschäftigte sich mit der Frage, warum der Barkeeper, der Alina, TomTom und mich in den fensterlosen Nebenraum begleitet hatte, so milde lächelte, während eine Leiche auf seinem Billardtisch verweste.
Der Mann, den wir gesucht hatten, lag quer über dem grünen Filz, wobei sein Kopf auf der linken Seite zwischen der vorderen und mittleren Lochtasche schlaff über der Bande hing. Die Augen waren weit geöffnet, und aus dem Mund rann ein roter Schleimfaden. Die Blutlache, die sich unter seinem Brustkorb ausbreitete, wirkte nicht mehr ganz frisch.
»Was stinkt denn hier so?«, fragte Alina angewidert und hielt sich die Hand vor Mund und Nase. »Ich, ich weiß nicht genau, aber ich glaube ...« »Den hat's ganz schön zerlegt, was?«, lachte der Barkeeper zufrieden. Ich wich einen Schritt zurück und trat ihm auf die Füße. Während ich noch überlegte, was wir in der Kneipe alles angefasst hatten und ob es möglich wäre, mir auch diesen Mord in die Schuhe zu schieben, aktivierte ich mein Handy.
»Nichts berühren«, rief ich Alina zu und tippte den Sim-Code ein.
Ich wollte gerade die Polizei anrufen, als das Telefon mir fast aus der Hand sprang. Der Vibrationsalarm signalisierte gleichzeitig mehrere Anrufe in Abwesenheit und einen neuen, der gerade einging. »Hallo? Alex?« O verdammt. Nicci!
Selbstverständlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch mit meiner Frau, doch ich hatte versehentlich eine falsche Taste gedrückt, und jetzt hing sie in der Leitung. »Na endlich, Gott sei Dank, ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.« Sie klang ängstlich. Eine böse Vorahnung überkam mich, und mit einem Mal fühlte ich mich noch schäbiger als die Inneneinrichtung der Kneipe, in der ich mich befand. »Julian. Ihm geht's nicht gut.« Bitte nicht.
Für einen Augenblick war alles andere
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