Der Ausflug
Temperatur. Die Alltäglichkeit dieser Handlung lenkte sie einen Moment ab. Wochenlang war sie nicht in der Kerzenmacherei gewesen, und sie sah jetzt, wie dringend sie hier für Ordnung sorgen musste. Nach den Palettenlisten an der Pinnwand zu urteilen, waren sie mit den Bestellungen für Weihnachten stark in Verzug geraten. Es fragte sich, wie sie diesen Rückstand wieder aufholen sollten. Sie hatten in letzter Zeit beunruhigend viele Bienenvölker durch Krankheit verloren. Und wenn Timo nicht bald damit begann, die übrig gebliebenen Völker für den Winter beizufüttern, konnten sie die nächste Ernte wohl auch vergessen.
»Meine Frau hat soeben einen... einen Hinweis erhalten, wo sich unsere Tochter möglicherweise befindet«, hörte sie ihn sagen.
Eine gewisse Ruhe überkam sie, noch keine tiefe und feste, aber immerhin. Vielleicht war ihr Leben ja schon bald wieder normal. Sie würde hier wieder jeden Morgen in aller Frühe Dochte tauchen, während ihr Töchterchen in seiner Wiege neben den Trockengestellen lag und fröhlich krähte und ihr Mann, die Liebe ihres Lebens, pfeifend mit seinem Zuckerwasser bei den Bienen werkelte.
Sowie Babette zurück war.
Doch schon kam wieder Angst in ihr auf. Sie musste sich beruhigen. Ihre Töchter waren schließlich unverwüstlich. Mädchen, die hart im Nehmen waren und nicht weinten, wenn Steinchen in den aufgeschlagenen Knien steckten, Mädchen, die sich nicht um Beulen und blaue Flecke scherten, Mädchen mit Rissen in den Kleidern, Mädchen, die mit allen Wassern gewaschen waren und dem Leben unerschrocken entgegentraten... Und ihre Jüngste war, so klein sie auch noch sein mochte, zweifellos aus dem gleichen Holz geschnitzt.
»Das werde ich versuchen«, sagte Timo und räusperte sich, »aber deutlicher kann ich leider nicht werden: Es muss in der Nähe einer Polizeiabsperrung sein.« Er hörte kurz zu, unsicher nickend. »Ja, das verstehe ich. Aber wir dachten, meine Frau dachte, vielleicht haben Sie eine Liste, eine landesweite Übersicht solcher Absperrungen. Sodass Sie gezielt überprüfen können, ob...«
»Babette ist bestimmt tapfer«, sagte Gwen laut.
Timo hielt die Sprechmuschel mit der Hand zu. »Was?« Sie schüttelte den Kopf.
»...sodass Sie nachsehen können, an welchen Orten gesucht werden muss.«
Es wunderte sie, dass er jemanden, mit dem er schon hundertmal Kontakt gehabt hatte, immer noch siezte. So formell war er sonst selten. War das ein Zeichen für gute Manieren, oder war es Untertänigkeit? Immer schön brav sein und nur ja nicht frech werden. Ein warmes Gefühl durchflutete sie. Er gab sich solche Mühe.
Sie schaute auf seine Schultern, auf den verschlissenen Kragen seines Oberhemds, auf diesen komischen, widerspenstigen Wirbel direkt über seinem rechten Ohr. Er bekam langsam einen breiten Nacken.
Sie würden zusammen alt werden. An milden Tagen würdensie am Kanal entlang ihren Rollator vor sich herschieben, Seite an Seite, noch stets miteinander verbunden durch ihre Verwunderung über die Welt mit all ihren Bienen und ihrem blühenden Klee, und wenn sie ihren steifen Beinen auf einer Bank am Ufer eine Pause gönnten, würde er seine Hand auf die ihre legen, trocken und warm, und sie würden zusammen über das Wasser blicken und zufrieden den Enten lauschen, die noch immer, genau wie früher, im Schilf herumschlabberten.
»Gut«, sagte er. »Selbstverständlich. Vielen Dank.« Er legte mit einer eckigen, ungelenken Bewegung den Hörer auf.
»Und?«, fragte sie, während sie ihn gespannt ansah.
Er nahm einen Bleistift von der Werkbank und musterte ihn einen Moment lang andächtig. Die Spitze war abgebrochen, das Ende abgenagt. Dann legte er ihn sehr sorgfältig wieder zurück. »Und nichts.«
»Nichts?«
»Sie haben keine...« Er breitete hilflos die Arme aus. »Das geht per Bezirk, per Gemeinde und ändert sich pausenlos, manchmal sperren sie eine Straße wegen eines Unfalls ab, und zwei Stunden später karrt jeder wieder drüber hinweg, das weißt du doch auch, Maus.«
Sie merkte, dass sie keuchte. »Dann schau ich mich eben selbst um.«
»Jetzt sei doch mal realistisch, Gwen. Wer sagt, dass es hier in der Nähe ist? Nach all der Zeit?«
»Das ist doch gerade logisch! Sonst hätte Leander sie bestimmt schon lange nicht mehr sehen können!« Das war so selbstverständlich, dass ihr Herz beinahe für einen Schlag aussetzte. Niemand hatte Babette in einem Flugzeug mitgenommen, sie war einfach die ganze Zeit hier gewesen, ganz in
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