Der Ausflug
der Nähe, gleichsam um die Ecke. Ohne weiter nachzudenken, wollte sie nach den Autoschlüsseln greifen, die an einem schiefen Nagel im Türrahmen hingen.
Ihr Mann kam ihr zuvor und steckte die Schlüssel in seine Tasche. »Gwennie. Es ist schon fast halb sechs. Die Kids müssen essen. Kommst du mit?« Seiner Stimme war unverkennbar Erleichterung anzuhören: Mit ihrer Nachricht hatte er den Hohn der Ermittler riskiert, aber jetzt konnten sie wieder zur Tagesordnung übergehen. Er knipste das Licht aus und zog die Tür auf. Feuchte Abendluft kroch herein. Wenn Babette irgendwo draußen war, und darauf hatten Leanders Worte schließlich hingedeutet, dann würde sie sich erkälten.
»Komm schon, Gwen. Wir haben noch vier weitere Kinder, an die müssen wir auch denken.«
Ihr Baby lag unter einem triefenden Strauch oder auf einem kalten, nassen Straßenpflaster, mit blauen Lippen, und der klatschnasse blonde Flaum klebte ihm am Köpfchen.
»Wenn es stimmt, dass sie in der Nähe einer Polizeiabsperrung ist, dann ist das eine großartige Neuigkeit. Dann werden sie sie bestimmt finden.«
Sie ergriff ihre Chance. »Ja, und deshalb müssen wir in der Nähe des Telefons bleiben. Geh du schon mal vor, dann bleibe ich noch kurz hier, ein paar Minuten, damit sie nicht anrufen, wenn wir gerade beide...«
Mit einem Seufzer zog er sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann machte er das Licht wieder an, drehte sich um und ging hinaus.
Manische Energie wallte in ihr auf. Fieberhaft riss sie Schränke und Schubladen auf und suchte nach einer Taschenlampe. Warum konnte sie nie etwas finden, warum herrschte eine solche Unordnung in ihrem Leben, warum lagen bei ihr die Dinge nicht wie bei allen anderen an einem festen Platz? Jedes wüste Regalbrett schrie es ihr entgegen: Sie war eine, die sogar ihr eigenes Baby verbummelte, was sollte man da erwarten? Sie schmiss einen Stapel Papier zur Seite: Die Zeichnungen von der neuen Kerze, die sie hatte machen wollen, derKerze, auf die sie am Tag des Picknicks gekommen war. »Das ist unser neues Modell, die Veronica, lieferbar in Himmelblau und Elfenbein.« Sie hatte an die Toten statt an die Lebenden gedacht. Sie hatte es für wichtig gehalten, einer geliebten Toten auf diese Weise zu gedenken. Aber die Toten waren tot. Ließ man sich mit ihnen ein, so vergaß man die Liebe zum Leben, vergaß man sein eigenes Kind.
Und als machte es den braven Bürgern in ihren aufgeräumten Reihenhäusern auch nur das Geringste aus, was für eine Kerze sie anzündeten. Diese Besserwisser, bei denen nie ein Kind verloren ging. Diese Glückspilze, die gar nicht wussten, wie gut sie es hatten, aber dennoch der Meinung waren, sie hätten sich dieses Glück selbst verdient, es selbst geschaffen.
Sie schob Filter und Formen von ihrem Platz, rollte PVC- Rohre und Dochtbündel beiseite. Hinter den Farbfässern auf dem Fußboden, unter einer verloren gewähnten Mütze von Marise, fand sie schließlich die Taschenlampe. War doch klar.
Mit vor Nervosität klammen Fingern knöpfte sie ihre Jeansjacke zu. Wenn sie es nicht wenigstens hier in der näheren Umgebung versuchte, hatte sie es auch nicht besser verdient. Und wenn sie weitermachte, bis es wieder hell wurde – fünf Kilometer pro Stunde schaffte sie leicht –, würde sie die Umgebung so einiger Polizeiabsperrungen durchkämmen können. Schnell jetzt, bevor Timo argwöhnisch wurde. Das Licht anlassen, das war eine gute Idee. Vom Haus aus konnte er die Kerzenmacherei zwar nicht direkt sehen, aber den Lichtschein am Himmel, der ihn vermuten lassen würde, dass sie immer noch hier war und auf ihren Nägeln kaute.
Dummerchen, dachte sie beklommen.
Draußen waberte Nebel, in albtraumhaften, zerfaserten Schwaden. Es war fast dunkel. Damit der Kies nicht zu sehr knirschte, ging sie auf Zehenspitzen. Am besten ging sie am Sommerhaus vorbei: Bobbie war sicher längst bei Timo undden Mädchen und hantierte geschäftig in der von Dampfschwaden erfüllten Küche. Na bitte, das Licht bei ihr war aus. Halb schleichend, halb rennend eilte Gwen weiter.
Auf dem Treidelpfad am Kanal warfen die Straßenlaternen ein nebliges Licht. In dieser sonderbaren, herbstabendlichen Lautlosigkeit hörte sie ganz deutlich ihre eigenen Schritte. Es hatte den ganzen Tag kräftig geweht, aber jetzt war es so gut wie windstill, und in der Luft hing der Geruch von Pilzen und altem, morschem Holz.
An der Autobahn hatte sie wahrscheinlich die größten Chancen: Da fuhren die
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