Der Außenseiter
Blick.«
Keiner sagte, dass sein Haar nass war oder anders aussah als sonst. Das aber wäre zu erwarten gewesen, wenn die Anklage mit ihren Vermutungen Recht gehabt hätte. Im Aussehen eiferte Stamp seinem Helden Ginger Baker nach, dem legendären Schlagzeuger der Rockgruppe Cream, die ihre große Zeit in den Sechzigerjahren hatte. Eine Fotografie von Stamp, die seine Mutter drei Monate vor dem Mord aufgenommen hat, zeigt den jungen Mann mit blassem, eingefallenem Gesicht, struppigem Schnauzer und Bart und ungepflegtem, strähnigem Haar, das ihm tief ins Gesicht hängt und bis zu den Schultern reicht. Wynne sagte aus, er habe es selten gewaschen, »weil es sich beim Trocknen gekraust hat und dann vom Kopf abgestanden ist«. Sie behauptete, er habe »Vaseline draufgetan, damit es schwerer wird«. In seinem Schlussplädoyer sprach Adam Fanshaw diese Diskrepanzen an – »wenn der Angeklagte sich die Haare gewaschen hat, müssen sie feucht gewesen sein, oder gekraust, als er das Haus verließ … an den Haaren aus der Badewanne 59
wurden keine Vaselinereste festgestellt«. Aber die Geschworenen waren davon nicht beeindruckt.
Vielleicht sahen sie keinen großen Unterschied zwischen krausem Haar und schmutzigem. Vielleicht fanden sie auch Stamps frisches Aussehen beim Prozess – man hatte ihn überredet, sich zu rasieren und sich die Haare kurz schneiden zu lassen, um eine möglichst jungenhafte Erscheinung zu bieten – allzu sehr im Widerspruch zur Aussage seiner Mutter, er zöge sich stets »das Haar ins Gesicht, um die Hasenscharte zu verstecken«.
Trotz der Versuche der Verteidigung zu beweisen, dass an den Haaren Vaselinerückstände gewesen sein müssten, akzeptierten sie offensichtlich die Behauptung der Anklage, dass Vaseline, ein Produkt auf Petroleumbasis, in Haarshampoo, einem Reinigungsmittel, löslich sei.
Schließlich ist noch zu bemerken, dass das erken-nungsdienstliche Kopfbild Stamps, vier Tage nach seinem angeblichen Vollbad aufgenommen, in allen Einzelheiten mit der Fotografie übereinstimmt, die drei Monate früher gemacht wurde: blasses, eingefallenes Gesicht, struppiger Schnauzer und Bart, strähniges, mit Vaseline gebändigtes Haar, das bis zu den Schultern hinunterreicht.
Widerstreitendes Beweismaterial
Stamp hätte Grace’ Haus frühestens um 12 Uhr erreicht und spätestens um 14 Uhr 30 verlassen 60
haben können. Er hätte also zweieinhalb Stunden Zeit gehabt, in Wut zu geraten, mit dem Messer auf seine Großmutter einzustechen, sie schließlich zu töten, ein Bad zu nehmen, seine Fingerabdrücke von den Wasserhähnen an der Wanne (die sauber waren) zu entfernen, das Haus zu verwüsten, um eine falsche Spur zu legen, die Vorhänge zu schlie-
ßen und die Fenster zu verriegeln.
Selbst angenommen, das alles wäre in dieser vergleichsweise kurzen Zeitspanne tatsächlich zu bewerkstelligen gewesen, ist zu bedenken, dass Stamp auch noch so besonnen gewesen sein müsste, nach seiner Flucht ein Paar Handschuhe in eine Mülltonne zu werfen. Alle Zeugen jedoch sagten aus, er habe sich merkwürdig benommen, sei gerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her, und blindlings in Dinge hineingelaufen, habe einen irren Blick gehabt. Mit anderen Worten, er verhielt sich wie ein Mensch in Panik.
Wie soll diese überstürzte Flucht an einem helllichten Sommernachmittag sich mit doch sehr be-sonnenem Handeln nach dem Mord in Einklang bringen lassen? Warum nach Verlassen des Tatorts die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn er zuvor versucht hatte, seine Spuren zu verwischen?
Warum war es überhaupt notwendig, das Haus so überstürzt zu verlassen? Wynne sagte aus, er sei von Besuchen bei seiner Großmutter selten vor Mitternacht nach Hause gekommen – »sie haben 61
zusammen ferngesehen« –, warum ist er an jenem Tag nicht auch einfach geblieben? Nicht nur hätte er mehr Zeit gehabt, eine falsche Spur zu legen, er hätte im Schutz der Dunkelheit aus dem Haus verschwinden können.
Die plausiblere Erklärung für seine überstürzte Flucht bietet seine zweite Aussage. Er war so erschrocken über das, was ihn erwartete, als er das Haus seiner Großmutter betrat, dass er völlig entsetzt nach Hause rannte und sich in seinem Zimmer einsperrte.
Wann wurde Grace Jefferies getötet?
Gemäß der ersten Einschätzung des Pathologen, die später als »Schreibfehler« verworfen wurde, starb Grace am Montag, dem 1. Juni 1970. Nach Aussage des Briefträgers, die im Prozess geändert wurde, waren ihre
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