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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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dazu.
    »Tzitzitlíni«, wies mein Vater sie zurecht. »Kein Mensch schlägt einem Tlamacázqi etwas ab oder weigert sich, einer Aufforderung nachzukommen, die er überbringt. Das wäre ungehörig den Priestern gegenüber und hieße, der Abordnung von Frauen Verachtung entgegenbringen, welche dir diese Ehre zugedacht hat. Ja, schlimmer noch – es wäre eine Beleidigung der Göttin Teteoinan selbst.«
    »Außerdem würde es den Unmut unseres geschätzten Tecútli erregen«, mischte sich unsere Mutter ein. »Der Herr Rot Reiher ist über die Wahl der diesjährigen Jungfrau bereits unterrichtet, und sein Sohn Páctlitzin desgleichen.«
    »Mich hat aber keiner gefragt!« erklärte meine Schwester in einem letzten Aufbegehren.
    Jetzt wußten wir beide, wer sie für die Rolle der Teteoinan vorgeschlagen hatte, ohne sie vorher zu fragen oder ihr Einverständnis einzuholen. Und wir wußten auch, warum. Damit unsere Mutter stellvertretend den Ruhm für Tzitzis tänzerische Leistung einheimste; damit unsere Mutter sich im Beifall der gesamten Insel sonnen könne; damit die in aller Öffentlichkeit vorgeführte Pantomime des Geschlechtsakts die Wollust des Herrn Freude noch steigerte; damit er mehr denn je bereit sein würde, im Austausch für das Mädchen unsere ganze Familie in den Adelsstand zu erheben.
    »Ehrwürdige Priester«, gab Tzitzi flehentlich zu bedenken. »Ich bin wirklich nicht dazu geeignet. Ich kann keine Rolle spielen, jedenfalls die Rolle nicht. Es wäre mir peinlich, und man würde mich deswegen auslachen. Ich würde der Göttin Schande bringen …«
    »Unsinn«, erklärte einer der vier. »Wir haben dich tanzen sehen, Mädchen. Komm mit! Jetzt gleich.«
    »Die Formalitäten, die vorher erledigt werden müssen, dauern nur wenige Augenblicke«, sagte unsere Mutter. »Geh schon, Tzitzi, und wenn du zurückkommst, unterhalten wir uns über dein Kostüm. Du sollst die strahlendste Teteoinan sein, die jemals das Kind Centéotl zur Welt gebracht hat.«
    »Nein«, erklärte meine Schwester noch einmal, allerdings ziemlich verzagt, und dabei doch verzweifelt auf irgendeinen Ausweg sinnend. »Es ist – es ist die falsche Zeit des Monds für mich …«
    »Es gibt kein Nein«, fuhr der Priester sie an. »Es gibt keine Ausreden, die gelten gelassen werden. Komm jetzt, Mädchen, oder wir nehmen dich mit Gewalt mit.«
    Sie und ich hatten keine Gelegenheit, einander auch nur Lebewohl zu sagen, denn es hieß ja, daß sie nur kurze Zeit fortbleiben werde. Als Tzitzi auf die Tür zuging und die vier übelriechenden Männer sie in die Mitte nahmen, warf sie mir über die Schulter hinweg noch einen verzweifelten Blick zu. Ums Haar hätte ich das nicht einmal mitbekommen, denn ich blickte mich suchend im Raum um, nach irgend etwas, was ich als Waffe hätte gebrauchen können.
    Ich schwöre, würde ich Blut Schwelgers Maquáhuitl zur Hand gehabt haben, ich hätte uns schwertschwingend den Weg durch Priester und Eltern – Unkraut, das es galt niederzumähen – freigekämpft und wir beide hätten uns irgendwo in Sicherheit gebracht, ganz egal wo. Doch war weder etwas Scharfes noch Schweres in greifbarer Nähe, und mich mit bloßen Händen auf die anderen zu stürzen, wäre sinnlos gewesen. Ich war damals zwanzig Jahre alt, ein erwachsener Mann, und mit den vier Priestern wäre ich wohl ohne Mühe fertiggeworden, doch meinem von der Arbeit kräftigen Vater wäre es gewiß nicht schwergefallen, mich zurückzuhalten. Und das wiederum wäre verdächtig gewesen, hätte Befragungen und Nachforschungen zur Folge gehabt, womit unser Schicksal besiegelt gewesen wäre …
    Ich habe mich seither oft gefragt: wäre dieses Schicksal nicht dem vorzuziehen gewesen, das sie dann wirklich erlitt? Ein solcher Gedanke huschte mir auch in diesem Augenblick durch den Kopf, aber ich schwankte, ich zögerte. Tat ich das, weil ich in einem feigen Winkel meines Bewußtseins wußte, daß ich bei Tzitzis Verhängnis ungeschoren davonkommen würde – das mich jetzt zaudern und zögern ließ? Lag es daran, daß ich die verzweifelte Hoffnung nährte, Tzitzi könne die untersuchenden Frauen doch hinters Licht führen – was mich schwanken und zaudern ließ? War es einfach mein unwandelbares und unentrinnbares Tonáli – oder ihres –, das mich zögern und zaudern ließ? Ich werde es nie wissen. Ich weiß nur, daß ich in der Tat schwankte, daß ich zauderte, doch dann war der Augenblick, da ich hätte handeln können, bereits vorüber, war Tzitzi fort,

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