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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Seher kann einem Irrtum erliegen, und das ist verzeihlich. Einer jedoch, der überhaupt nichts versteht, stellt eine echte Gefahr für das Volk dar, und das ist unerträglich. Sobald wir in die Stadt zurückgekehrt sind, melde dich zur Hinrichtung bei der Palastwache.«
    Am Morgen des nächsten Tages, Zwei Rohr, dem ersten Tag des neuen Jahres gleichen Namens – Zwei Rohr –, war auf dem Markt von Tlaltelólco wie auf jedem anderen Markt Der Einen Welt Hochbetrieb und wimmelte es dort von Menschen, welche neue Haushaltsgeräte kauften, um die alten zu ersetzen, die ja zerbrochen worden waren. Wiewohl die Menschen nach der Entzündung des Neuen Feuers kaum noch Schlaf bekommen haben konnten, waren alle fröhlich und heiter, innerlich erhoben sowohl von der Tatsache, daß sie wieder ihre besten Kleider anziehen durften, wie von der Tatsache, daß die Götter es für richtig befunden hatten, sie noch einmal davonkommen zu lassen.
    Um die Mittagszeit hielt der Uey-Tlatoáni von der Spitze der Großen Pyramide herab die traditionelle Ansprache an sein Volk. Zum Teil gab er weiter, was der inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilende Seher vorausgesagt hatte – gutes Wetter, reiche Ernten und so fort –, doch versetzte er den allzu süßen Honig klug mit bitteren Warnungen, daß die Götter nur dann fortfahren würden, sich den Mexíca gegenüber wohltätig zu verhalten, wie diese Götter ihr Wohlgefallen an den Mexíca fänden. Deshalb, so erklärte Motecuzóma, müßten alle Männer hart arbeiten, alle Frauen sparsam sein, alle Kriege machtvoll geführt und zu gebotener Zeit alle Opfer und Opfergaben dargebracht werden. Alles in allem erfuhren die Menschen, daß das Leben weitergehen würde, wie es das immer getan hatte. Motecuzómas Ansprache enthielt nichts Neues und oder besonders Aufschlußreiches, außer, daß er – beiläufig, als habe er dafür gesorgt, daß es zur öffentlichen Belustigung geschehe – die bevorstehende Sonnenfinsternis ankündigte.
    Während er vom Gipfel der Pyramide herab noch redete, verließen seine Schnellboten Tenochtltlan nach allen Himmelsrichtungen. Sie trugen die Nachricht von der bevorstehenden Sonnenfinsternis zu allen Herrschern, Tecútlis und Gemeindeältesten und strichen die Tatsache heraus, daß die Götter unseren Astronomen vorzeitig von diesem Ereignis in Kenntnis gesetzt hätten, auf daß sie weder schlechte noch gute Folgen zeitige und keine Unruhe verursache. Doch daß Menschen gesagt wird, sie sollten einem furchterregenden Phänomen keinerlei Aufmerksamkeit schenken, ist eine Sache; eine andere ist es, wenn diese Menschen selbigem Ereignis gegenüberstehen.
    Selbst ich, der ich doch einer der ersten gewesen war, die von der bevorstehenden Yqualóca erfahren hatten, konnte sie nicht mit gähnendem Gleichmut betrachten, als sie schließlich stattfand. Gleichwohl mußte ich so tun, als beobachtete ich es mit Ruhe und wissenschaftlicher Gelassenheit, denn sowohl Nochipa und Béu als auch unsere beiden Diener standen an diesem Tag, Sieben Eidechse, mit mir auf unserem Dachgarten, und ich mußte ihnen allen ein Beispiel an Furchtlosigkeit sein.
    Ich weiß nicht, wie es in anderen Teilen Der Einen Welt dabei zuging, aber hier in Tenochtítlan schien Tonatíu vollständig verschluckt zu werden. Wenn es wohl auch nur wenige Augenblicke dauerte, uns wollte es wie eine Ewigkeit vorkommen. Der Tag war wolkenbedeckt, die Sonne nur eine blasse und mondähnliche Scheibe, als sie noch voll erstrahlte, und wir konnten, ohne geblendet werden, zu ihr hinaufblicken. Wir konnten sehen, wie sie zuerst am Rand angenagt wurde wie eine Tortilla, und dann beobachten, wie das über ihr ganzes Antlitz weiterging. Der Tag verdunkelte sich, die Frühlingswärme verflüchtigte sich, und Winterkälte strich über die Welt. Vögel umkreisten verwirrt unser Dach, und wir hörten die Hunde unserer Nachbarn heulen.
    Der Halbkreis, welcher aus Tonatíu herausgebissen wurde, wurde größer und immer größer, bis zuletzt sein ganzes Antlitz verschluckt und so dunkel wurde wie das Gesicht eines Mannes aus dem Chiapa-Land. Einen Augenblick war die Sonne womöglich noch dunkler ais die sie umgebenden Wolken, gleichsam als starrten wir durch ein Loch im Tag in die Nacht hinein. Dann verfärbten sich die Wolken, der Himmel und die ganze Welt nahmen die gleiche dunkle Färbung dieses Nachtdunkels an, und Tonatíu war unseren Blicken vollständig entschwunden.
    Das einzig tröstliche Licht, welches man

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