Der Azteke
Tenochtitlan behaupteten, die Dame durch die Nacht wandern gesehen und beobachtet zu haben, wie sie die Hände rang und klagend Warnungen ausstieß. Den Berichten jener zufolge, welche ihr begegnet sein wollten – und deren Zahl von Nacht zu Nacht wuchs –, sei die Dame Papan ihrem Grab entstiegen, um eine Botschaft zu übermitteln. Und diese Botschaft aus der Gegenwelt laute dahingehend, sie habe große Eroberungsheere aus dem Süden auf Tenochtítlan vorrücken sehen.
Insgeheim kam ich zu dem Schluß, daß den Gerüchtemachern nichts weiter zuteil geworden war als der vertraute und leidige Anblick der Weinenden Frau, welche ewig klagend die Hände ringt, und sie ihre ermüdende alte Klage fälschlich oder willentlich fehlgedeutet hätten. Motecuzóma konnte jedoch nicht so ohne weiteres das Gespenst seiner eigenen Schwester leugnen, welches gesehen worden sein sollte. Er konnte dem zunehmenden Getuschel nur dadurch ein Ende bereiten, daß er befahl, Pápans Grab zu öffnen und bei Nacht zu beweisen, daß sie friedlich darin liege und durchaus nicht klagend durch die Stadt ziehe.
Ich war nicht unter jenen, welche diesen nächtlichen Ausflug mitmachten, doch die unheimliche Geschichte dessen, was bei dieser Gelegenheit geschah, war später in aller Munde. Motecuzóma begab sich in Begleitung einiger Priester und etlicher Höflinge als Zeugen zum Grab. Die Priester hoben die Erde aus, welche über sie geschaufelt worden war, und hoben den prachtvoll in Tücher eingewickelten Leichnam heraus; Motecuzóma stand, unruhig von einem Bein auf das andere tretend, dabei. Die Priester wickelten die Tücher vom Kopf der Toten ab, um sich zu vergewissern, daß es sich auch wirklich um die Dame Papan handelte. Sie stellten fest, daß die Verwesung noch nicht sonderlich fortgeschritten war und kein Zweifel daran herrschen könne, daß es sich wirklich um die Dame Früh Vogel handelte und daß selbige wirklich tot war.
Dann, so heißt es, habe Motecuzóma einen Schreckensruf ausgestoßen, und selbst die unerschütterlichen Priester seien zurückgewichen, als die Lider der Dame sich langsam öffneten und ein unirdisches, grünlichweißes Leuchten von dort ausgegangen sei, wo zuvor ihre Augäpfel gesessen hätten. Nach den Berichten, die umgingen, habe sie starr ihren Bruder angesehen, welcher daraufhin, von Entsetzen gepackt, eine lange, aber unzusammenhängende Rede an sie gehalten habe. Manche behaupteten, er habe sich bei ihr entschuldigt, sie in ihrer Ruhe gestört zu haben. Andere hinwiederum, es sei ein Schuldgeständnis gewesen – und behaupteten hinterher, die Krankheit, welche Motecuzómas – wie es hieß: jungfräuliche – Schwester dahingerafft habe, sei in Wirklichkeit eine Fehlgeburt mit tödlichem Ausgang gewesen.
Von dem, was die Leute hinterher redeten, einmal abgesehen, bezeugten alle Anwesenden, der Verehrte Sprecher habe sich schließlich umgedreht und sei von dem offenen Grabe geflohen
– und zwar zu früh, um zu erkennen, daß die schimmernden grünlichweißen Augen der Leiche angefangen hätten, sich zu bewegen, sich zu entringeln und ihre eingefallenen Wangen herunterzugleiten. Dabei hatte es sich keineswegs um etwas Unnatürliches, sondern nur um zwei Petlazolcóatl gehandelt jene langen, mit unendlich vielen Beinen bewehrten, grauslich aussehenden Hundertfüßler, die – den Glühwürmchen gleich – im Dunkeln eigentümlich hell leuchteten. Zwei von diesen Geschöpfen hatten sich offensichtlich in dem Leichnam verkrochen, waren durch die am leichtesten zugänglichen Öffnungen hineingelangt, hätten sich jeder in einer Augenhöhle zusammengeringelt, um es sich darin Wohlergehen zu lassen und sich am Kopf der Dame gütlich zu tun. In dieser Nacht seien sie dann durch die unerwartete Bewegung langsam und blind aus den Höhlen gekrochen, wo zuvor die Augäpfel gesessen, hätten sich dann zwischen ihren Lippen gewunden und seien wieder verschwunden.
Pápantzin wurde, das ergeben zumindest die Unterlagen, nie wieder in der Öffentlichkeit gesichtet, doch wurde von anderen merkwürdigen Begebenheiten geredet, welche soviel zitternde Furcht erregten, daß der Staatsrat eine besondere Untersuchungskommission ernannte, um herauszufinden, was es mit der Sache auf sich habe. Soweit ich mich erinnere, konnte keine davon bestätigt werden, und die Mehrzahl davon wurde als Hirngespinste von Leuten abgetan, welche die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten, oder als Halluzinationen schwer
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