Der Azteke
sich zeigten. Doch endlich erschienen sie, eine blasse Sternengruppe, und gleich darauf der leuchtend rote Stern, welcher ihr immer folgt. Wir warteten, wie sie langsam den Himmel hinaufwanderten, und warteten atemlos, doch verschwanden sie unterwegs nicht, stoben nicht auseinander und wichen auch sonst nicht von ihrer gewohnten Bahn ab. Endlich atmeten die auf dem Hügel Versammelten vernehmlich auf, als der die Zeit zählende Priester in sein Muschelhorn stieß, um Mitternacht zu verkünden. Etliche Leute erklärten leise: »Sie stehen an der richtigen Stelle und kommen zur richtigen Zeit.« Der Oberste Priester aller versammelten Priester, der Hohepriester Huitzilopóchtlis, befahl dann mit weithin hallender Stimme: »Das Neue Feuer – es werde entzündet!«
Ein Priester legte die Bohrunterlage auf die Brust des rücklings daliegenden Xochimíqui und häufte locker den Zunder darauf. Ein zweiter Priester auf der anderen Seite des Steins lehnte sich mit dem Bohrstab darüber und fing an, den Stab zwischen den Handflächen zu zwirbeln. Aufgeregt warteten wir Zuschauer alle, denn immer noch konnten die Götter uns den Lebensfunken versagen. Doch dann stieg ein feines Rauchwölkchen vom Zunder auf. Gleich darauf glomm es zaghaft auf. Der Priester, welcher die Unterlage mit einer Hand festhielt, benutzte die andere, um die winzigen Flämmchen weiter anzufachen und ihnen Nahrung zu geben: ölgetränkte Baumwollbäusche, trockene Borkenfasern – und dann war es in der Tat eine zwar noch kleine, flackernde, aber unverkennbar eine Flamme. Der Xochimíqui schien aus seinem Schlummer zu erwachen; seine Augen öffneten sich weit genug und erblickten das erwachende Neufeuer auf seiner Brust. Aber er sollte nicht lange hinsehen.
Behende zog einer der Priester die Unterlage mit dem Feuer darauf beiseite. Ein anderer zückte sein Messer und vollführte seinen Schnitt mit solcher Kraft, daß der junge Mann kaum zuckte. Als der Brustkorb freigelegt war, griff einer der Priester hinein, löste das pochende Herz und hob es heraus, während der andere die flammende Unterlage anstelle des Herzens in die klaffende Wunde legte und gleich darauf rasch, aber geübt mehr und immer mehr Baumwolle und Borke darauf häufte. Als in der Brust des sich nur noch schwach regenden Opfers eine nunmehr ansehnliche Flamme aufloderte, legte der andere Priester das Herz vorsichtig in die Mitte des Feuers. Für einen Augenblick wurden die durch das Herzblut gedämpften Flammen wieder kleiner, um gleich darauf wieder kraftvoll aufzulodern, während das Herz darin zischte.
Ein Schrei entrang sich allen Umstehenden. »Das Neue Feuer ist entzündet!« ertönte es, und die Menge, welche bis zu diesem Augenblick nahezu in Regungslosigkeit verharrt hatte, geriet in Bewegung. Je nach Rang ergriff ein Priester nach dem anderen eine der Fackeln, die aufgestapelt dalagen, hielt sie an die rasch verschmurgelnde Brust des Xochimíqui, um sie am Neufeuer zu entzünden, und trug sie dann im Laufschritt davon. Der erste benutzte seine Fackel, um die wartende Pyramide aus Holz in Brand zu setzen, auf daß jedes Auge, welches aus noch so großer Ferne auf den Huixáchi-Hügel gerichtet war, den Holzstoß aufflammen sah und wußte: Alle Gefahr war vorüber, mit Der Einen Welt war immer noch alles in Ordnung. Mir war, als hörte ich die Hochrufe, das Lachen und das glückliche Geschluchze, welches von den Wartenden auf den Dächern aller Orte am See aufstieg. Dann liefen die Priester den Weg entlang, welcher den Hügel hinunterführte, und die Fackeln loderten hinter ihnen wie in Flammen stehendes Haar. Am Fuße des Hügels warteten weitere Priester, welche aus den Gemeinwesen von fern und nah hier zusammengekommen waren. Sie ergriffen die Fackeln und liefen auseinander, um die kostbaren Brände des Neufeuers in die Tempel der verschiedenen Städte, kleineren Orte und Dörfer zu tragen.
»Nimm deine Maske ab, Nochipa«, gebot ich meiner Tochter. »Jetzt darfst du das tun. Nimm sie ab, dann kannst du besser sehen.«
Seite an Seite standen wir auf der Nordseite der Hügelkuppe und sahen zu, wie die winzigen Brände und hellen Funken uns zu Füßen nach allen Richtungen auseinanderfuhren. Dann kam es zu anderen lautlosen Bewegungen des Feuers. Die nächstgelegene Stadt, Ixtapalápan, war die erste, in deren Haupttempel das Feuer wieder anging, dann kam Mexicaltzinco. Und in jedem Tempel warteten zahllose Einwohner der jeweiligen Stadt, welche ihre eigenen Fackeln ins
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