Der Azteke
Tempelfeuer hielten und liefen, die längst erkalteten Herdfeuer ihrer Familien und Nachbarn wieder zu entfachen. So wurde jede Fackel, die sich flackernd vom Huixachi-Hügel entfernte, zu einem kaum noch erkennbaren kleinen Lichtpunkt in der Ferne, erblühte zu einem Tempelfeuer, welches seinerseits nach allen Seiten Funken versprühte, und jeder davonstiebende Funke ließ eine Spur von regungslosen Funken hinter sich. Dieses Vorgehen wiederholte sich immer und immer wieder, in Coyohuácan, in der großen Stadt Tenochtitlan, in weiter entfernten und weiter auseinanderliegenden Gemeinden, bis die gesamte riesige Seensenke zu neuem Licht und neuem Leben erwacht war. Es war ein herzerhebender, spannender und erheiternder Anblick – und ich bemühte mich, ihn mir dort einzuprägen, wo meine glücklicheren Erinnerungen saßen, denn ich konnte nicht hoffen, einen solchen Anblick je wieder zu erleben.
Als läse sie meine Gedanken, sagte meine Tochter leise: »Ach, hoffentlich lebe ich solange, daß ich eine alte Frau werde. Wie gern würde ich dieses Wunder nächstesmal noch einmal erleben.«
Als Nochipa und ich uns schließlich wieder dem großen Feuer zuwandten, hockten in seiner Nähe vier Männer und berieten sich sehr ernsthaft: der Verehrte Sprecher Motecuzóma, der Oberpriester Huitzilopóchtlis, der Seher und der Astronom, von denen ich schon vorher gesprochen habe. Sie beratschlagten, welche Worte der Uey-Tlatoáni am nächsten Tag sprechen sollte, um zu verkünden, was das Neue Feuer für die kommenden Jahre versprochen habe. Der Seher, welcher über etlichen Schaubildern hockte, die er mit einem Stecken in den Boden geritzt hatte, hatte offensichtlich gerade eine Prophezeiung von sich gegeben, der gegenüber der Astronom Zweifel anmeldete, denn dieser sagte spöttisch:
»Keine Trockenzeiten mehr, kein Elend, ein fruchtbares Schock Jahre, das da auf uns zukommt. Sehr tröstlich, Freund Zauberer. Aber seht Ihr denn überhaupt keine Zeichen von böser Vorbedeutung am Himmel auftauchen?«
Bissig versetzte der Seher: »Der Himmel ist Eure Sache. Ihr zeichnet die Karten, und ich komme dazu und werde verkünden, was die Karten uns zu sagen haben.«
»Ihr würdet mehr Anregung darin finden«, erklärte der Astronom erbost, »wenn Ihr ab und zu einmal zu den Sternen hinaufblicken würdet, statt auf die albernen Kreise und Winkel, die Ihr zeichnet.« Er zeigte auf die Krakel auf der Erde. »Dann lest Ihr also nichts von einer bevorstehenden Yqualóca?«
Das Wort bedeutet Sonnenfinsternis. Der Seher, der Priester und der Verehrte Sprecher wiederholten gemeinsam und mit unsicherer Stimme: »Sonnenfinsternis?«
»Eine Sonnenfinsternis!« sagte der Sternkundige. »Selbst dieser alte Narr könnte sie vorhersehen, wenn er sich nur einmal mit unserer Vergangenheit, mit unserer Geschichte beschäftigte, statt so zu tun, als kennte er die Zukunft.«
Der Seher saß da und schluckte; er war sprachlos. Motecuzóma funkelte ihn an, und der Sternkundige fuhr fort:
»Aus den Niederschriften geht hervor, Verehrter Sprecher, daß die Maya des Südens im Jahre Zehn Haus eine Yqualóca hungrig nach Tonatiu schnappen sahen. Im nächsten Mond, am Tage Sieben Eidechse, werden seit jenem Vorkommnis genau achtzehn Sonnenjahre und elf Tage vergangen sein. Und nach den Unterlagen, welche ich und meine Vorgänger in den Landen im Norden und im Süden zusammengetragen haben, kommt es irgendwo in der Der Einen Welt in regelmäßigen Abständen zu einer solchen Verfinsterung der Sonne. Ich kann mit Sicherheit vorhersagen, daß Tonatíu am Tage Sieben Eidechse wieder von einem Schatten verfinstert werden wird. Da ich kein Zauberer bin, kann ich Euch unglücklicherweise nicht sagen, wie nachhaltig diese Yqualóca sein wird und in welchen Gegenden man sie wird sehen können. Doch diejenigen, die Zeuge davon werden, könnten, da sie so bald nach der Neufeuer-Zeremonie auftritt, ein ganz besonders schlimmes Vorzeichen darin sehen. Ich würde vorschlagen, Hoher Gebieter, daß alle Menschen vorher von dem Ereignis unterrichtet und vorgewarnt werden, auf daß ihre Angst nicht zu groß werde.«
»Du hast recht«, sagte Motecuzóma. »Ich werde Schnellboten in alle Lande aussenden. Selbst in die unserer Feinde, damit sie das Zeichen nicht dahingehend deuten, daß unsere Macht im Sinken begriffen sei. Ich danke Euch, Herr Astronom. Und was Euch betrifft …«, kalt wandte er sich dem zitternden Seher zu. »Auch noch der weiseste und tüchtigste aller
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