Der Azteke
lange Haar mit Oxitl verklebt, dem schwarzen Kiefernteer, mit dem unsere Vogelsteller sich Beine und Unterleib einschmieren, um sich vor der Kälte zu schützen, wenn sie in das Wasser des Sees hinauswaten. Zwei Priester dudelten die rituellen Melodien auf Flöten aus menschlichen Schienbeinknochen, während ein anderer auf eine Trommel schlug. Es handelte sich um eine besondere Trommel, die für diese Gelegenheit besonders geeignet war; sie bestand aus einem mächtigen getrockneten Kürbis, der zum Teil mit Wasser gefüllt war, so daß die Trommel bis zur Hälfte im seichten Wasser versank und schwamm. Mit Schlegeln aus Hüftknochen bearbeitet, gab die Wassertrommel einen dumpfen Trommelwirbel von sich, der von den rings um den See unsichtbar aufragenden Bergen widerhallte.
Der Xochimíqui wurde in das Rund aus rauchigem Licht hereingeführt. Er war nackt und trug nicht einmal ein Maxtlatl, mit dem die Männer sonst Lenden und Scham verhüllten. Selbst im flackernden Zwielicht konnte ich erkennen, daß sein Körper nicht von blaugesprenkelter Fleischfarbe war, sondern von einem Totenblau, das hier und da einen fleischfarbenen Sprenkel aufwies. Er wurde mit abgespreizten Gliedern zwischen den Uferpfosten festgebunden, ein Fuß- und ein Handgelenk jeweils an einem Pfosten. Ein Priester, der einen Pfeil schwenkte wie einen Taktstock, stimmte einen Beschwörungsgesang an.
»Den Lebenssaft dieses Mannes geben wir dir, Atláua, vermischt mit dem Lebenswasser unseres geliebten Sees Xaltócan. Wir bringen es dir zum Geschenk dar, Atláua, auf daß du die Güte besitzen mögest, Schwärme köstlicher Vögel in die Netze unserer Vogelsteller gehen zu lassen …« Und so weiter.
Lange zog sich das hin, so lange, bis es mich langweilte – und Atláua vermutlich längst. Dann, ohne jede Warnung und ohne jegliche rituelle Gebärde senkte der Priester unvermittelt den Pfeil, riß ihn mit aller Kraft hoch und drehte ihn im Geschlecht des blauen Mannes. Mochte das Opfer auch noch so heiß ersehnt haben, vom Leben befreit zu werden, jetzt stieß es einen Schrei aus. Es gellte diesen Schrei hinaus, schrill wehklagend, daß es den Klang der Flöten, der Trommel und des Gesanges übertönte. Es schrie, aber es schrie nicht lange.
Der Priester mit dem blutigen Pfeil zog ein Kreuz über die Brust des Mannes: das Ziel, und alle Priester tänzelten im Kreis um ihn herum, ein jeder mit einem Bogen und vielen Pfeilen in den Händen. Wer jeweils vor dem Xochimíqui stand, schickte einen Pfeil in die blau sich hebende und senkende Brust. Nachdem der Tanz vorüber und alle Pfeile verschossen waren, sah der Tote aus wie ein überlebensgroßes Tier, das wir Kleines Stachelschwein nennen. Weiter geschah in der Zeremonie sonst nichts. Der Leichnam wurde von den Pfosten losgebunden und mit Stricken hinten an dem auf den Strand gezogenen Acáli eines Vogelstellers festgemacht. Der Vogelsteller ruderte sein Kanu hinaus auf den See, bis wir ihn nicht mehr sehen konnten; dabei hatte er den Leichnam im Schlepptau, bis dieser durch das Wasser, welches durch seine natürlichen Körperöffnungen und die Pfeillöcher eindrang, so schwer geworden war, daß er unterging. Dergestalt nahm Atláua sein Opfer entgegen.
Mein Vater hob mich wieder auf seine Schultern und trat weit ausgreifend den Rückweg über die Insel an. Während ich sicher und unversehrt dort oben auf- und abhüpfte, schwor ich mir knäbisch und überheblich eines. Sollte es jemals mein Tonáli sein, für den Blumentod oder als Opfer auserwählt zu werden, und wäre es auch für eine fremde Gottheit – ich würde nicht schreien, was immer man mir auch antun und welche Schmerzen ich auch erleiden sollte.
Törichtes Kind. Damals dachte ich, der Tod, das hieße nur sterben, und zwar entweder tapfer oder jämmerlich. Doch wie hätte ich damals, in der elterlichen Geborgenheit meines unbedrohten jungen Lebens, da ich auf starken Schultern einem süßen Schlaf entgegengetragen wurde, aus dem ich erst durch den Ruf des Frühvogels geweckt werden sollte – wie hätte ich damals wissen sollen, was der Tod wirklich ist?
Wir glaubten in jener Zeit, einen im Dienst eines mächtigen Herrn gefallenen oder zu Ehren einer hohen Gottheit geopferten Helden erwarte mit Gewißheit ein ewiges Leben in der strahlendsten aller Gegenwelten, in der er für immerdar mit Glückseligkeit belohnt und beschenkt werden würde. Jetzt erfahren wir durch das Christentum, daß wir auf ein späteres Leben in einem
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