Der Azteke
des Lügens nicht möglich. Für das »Speichel und Schleim Sprechen«, wie wir das Lügen nannten, mußte mein Tete die dafür vorgeschriebene Bestrafung an mir vollziehen. Er wand sich innerlich, als er es tat: mir nämlich mit dem Dorn des Maguey-Strauchs die Unterlippe durchbohrte und diesen bis zum Schlafengehen darin ließ. Ayya ouiya, dieser Schmerz, diese Schande, dieser Schmerz, diese Tränen der Reue, dieser Schmerz!
Die Bestrafung hinterließ einen so nachhaltigen Eindruck bei mir, daß ich diesen wiederum in den Archiven unseres Landes hinterlassen habe. Wenn Ihr unsere Bilderschrift gesehen habt, dann habt Ihr Figuren von Menschen oder anderen Geschöpfen gesehen, denen ein geringeltes, schriftrollenähnliches Zeichen entwächst. Dieses Zeichen bedeutet ein Nahuatl, das heißt: eine Zunge, Sprache, Rede oder Klang. Es deutet an, daß die Figur spricht oder irgendeinen Laut von sich gibt. Ist das Nahuatl geringelter als sonst, und wird es noch erweitert durch das Zeichen für Schmetterling oder Blume, dann spricht die Figur Dichtung oder singt ein Lied. Als ich selber Schreiber wurde, fügte ich unserer Bilderschrift noch eine Erweiterung hinzu: ein von einem Maguey-Dorn durchbohrtes Nahuatl ist ein Zeichen, das alle unsere anderen Schreiber bald übernommen haben. Seht Ihr dieses Zeichen vor einer Figur, so wißt Ihr, daß jemand eine Lüge spricht.
Meine Mutter, die weit häufiger mit Züchtigungen bei der Hand war als mein Vater, teilte diese ohne zu zögern, ohne Gewissensbisse und ohne Mitleid aus, ja, ich vermute, sogar mit einer gewissen lustvollen Genugtuung daran, uns neben der Zurechtweisung auch noch Schmerz zuzufügen. Diese Bestrafungen mögen sich nicht auf die Bildergeschichte unseres Landes ausgewirkt haben wie das Zeichen der vom Dorn durchbohrten Zunge, um so nachdrücklicher jedoch auf das Leben von mir und meiner Schwester. Ich sehe noch heute vor mir, wie meine Mutter das Hinterteil meiner Schwester wütend mit einem Bündel Nesseln bearbeitete, so daß es flammend rot wurde, weil das Mädchen sich der Sünde der Schamlosigkeit schuldig gemacht hatte. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erklären, daß Schamlosigkeit bei uns nicht notwendigerweise das gleiche bedeutete, was es offensichtlich bei euch weißen Männern bedeutet: die unanständige Zurschaustellung des unbekleideten Körpers. Überhaupt – was die Kleidung betrifft, liefen wir Kinder beiderlei Geschlechts, sofern das Wetter es zuließ, bis zum Alter von vier oder fünf Jahren vollkommen nackt herum. Danach bekleideten wir unsere Nacktheit mit einem langen, groben, rechteckigen Tuch, welches wir über einer Schulter zusammenknoteten und das bis zur Hälfte des Oberschenkels hinunterreichte. Sobald wir erwachsen wurden – das heißt, mit dreizehn Jahren –, trugen wir Jungen unter unserem Überwurf noch ein Maxtlatl-Schamtuch, das jetzt aus feinerem Stoff bestand. Etwa im gleichen Alter, je nachdem, wann sie ihre erste Blutung bekamen, trugen die Mädchen dann Frauenröcke und -blusen sowie ein Untergewand, das so ähnlich aussah wie das, was ihr eine Windel nennt.
Verzeiht, wenn ich mich bei unbedeutenderen Einzelheiten aufhalte, aber ich versuche, mir darüber klarzuwerden, wann etwa es zu dieser Nesselzüchtigung bei meiner Schwester kam. Aus Neun Rohr war vor einiger Zeit Tzitzitlíni geworden – der Name bedeutet soviel wie »Glöckchengeläut« –, also muß sie älter als sieben gewesen sein. Allerdings hatte ich gesehen, daß ihr Hinterteil brennend rot war, was bedeutet, daß sie kein Untergewand trug, also noch keine dreizehn Jahre alt war. Alles bedacht, muß sie dann wohl zehn oder elf gewesen sein. Und alles, womit sie sich ihre Züchtigung verdient hatte – das einzige, dessen sie sich schuldig gemacht –, bestand darin, daß sie verträumt gemurmelt hatte: »Ich höre Trommeln und Musik. Ob sie heute abend wohl tanzen?« Für unsere Mutter war das schamlos. Tzitzi sehnte sich offensichtlich nach leichtfertiger Tändelei, wo sie sich doch hätte an den Webrahmen setzen oder etwas ähnlich Langweiliges tun sollen.
Eines Tages – ich war damals vier oder fünf Jahre alt – saß ich zusammen mit Tlatli und Chimáli im Hof unseres Hauses und spielte das Patóli-Bohnenspiel mit ihnen. Dabei handelte es sich nicht um das gleichfalls Patóli genannte Glücksspiel der erwachsenen Männer, welches gelegentlich eine Familie ihr Vermögen kostete oder eine tödliche Familienfehde nach sich zog. Nein, wir
Weitere Kostenlose Bücher