Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
nun auf ihn zukäme. »Jetzt bist du da, erklär dich mal, was willst du hier?« fragte Baader. Klaus Jünschke hatte das Gefühl, Baader führe derartige Gespräche bewußt so provokativ, um den Selbstbehauptungswillen der Neulinge zu testen. Jünschke erhielt den Namen »Spätlese«.
In der ersten Woche sollte er die Stadt kennenlernen. Tagelang fuhr er allein mit der U-Bahn durch Hamburg, stieg immer wieder um und durchstreifte die einzelnen Viertel. Er hatte sich einen Stadtplan gekauft, trug die Standorte aller Polizeireviere ein und markierte sie mit kleinen Fähnchen. Ab und zu besuchte ihn Gudrun Ensslin, begutachtete seine polizeigeographische Arbeit und zeigte sich zufrieden damit. Jünschke erhielt einen neuen Paß und durfte in eine der illegalen Wohnungen einziehen. Dort lernte er Teeny kennen. Sie liefen zusammen durch Hamburgs Straßen und beobachteten die Umgebung ihrer Stützpunkte, um festzustellen, ob in der Nähe Autos mit zwei Antennen, Observationsfahrzeuge, herumstanden. Meistens waren sie nachts unterwegs und gingen erst gegen drei oder vier Uhr morgens schlafen. Jünschke fühlte sich bei den nächtlichen Streifzügen nicht sehr wohl und dachte: »Eigentlich sind wir die einzigen, die in der Nacht auf der Straße sind.«
Er sprach Ulrike Meinhof darauf an, und sie antwortete: »Der Winter ist meine liebste Zeit. Da kann man mich nicht sehen, da ist es dunkel auf den Straßen und auch am Tage dämmrig.« Vor allem in Hamburg, wo sie viele Jahre lang gelebt hatte, wo viele Leute sie kannten, befürchtete sie, erkannt zu werden – an ihrem Gang, ihrer Gestalt, ihrer Stimme. Eine Zeitlang lebte Jünschke mit Ulrike Meinhof und zwei anderen zusammen in einer Dreizimmerwohnung. Er kochte für seine Mitbewohner, Ulrike Meinhof wusch ihm die Haare mit Wasserstoffsuperoxid, so daß er, von Natur aus ein dunkler Typ, nun aschblond war. Manfred Grashof wies ihn in die Kunst des Fälschens ein, und gemeinsam sorgten sie für die übrigen logistischen Erfordernisse: Sie tapezierten Wohnungen und kauften in Gebrauchtmöbellagern eine betont kleinbürgerliche Einrichtung zusammen.
Jünschke später: »Man geht zur Stadtguerilla, und dann bist du dabei, die Wohnung herzurichten, vier Wochen lang, und ewig muß man was einkaufen, die Sachen, die gebraucht werden. Das ist 99 Prozent dessen, was gemacht wird.« Alle paar hundert Meter kam man an dem eigenen Fahndungsfoto vorbei, an jeder Litfaßsäule, in jedem Postamt, jeder Bank. Den meisten Gruppenmitgliedern war nur allzu klar, daß am Ende ihres Weges nur das Gefängnis oder der Tod stehen konnte. Manche befielen Zweifel, sie dachten an Aussteigen, aber jeder fürchtete, es einem anderen zu sagen, obwohl der vielleicht selbst ebenso dachte. Manchmal überlegte sich Jünschke, ob es nicht besser sei, statt aller Illegalität ins Kino zu gehen, in Urlaub zu fahren, sich in Spanien vier Wochen an den Strand zu legen, ohne Waffe, und über die eigene Lage nachzudenken – alles abschütteln, sich entspannen: »Das hätte natürlich dazu geführt, daß ich nicht zurückgegangen wäre.«
Vom Staat gejagt und von der Linken nicht geliebt, war man aufeinander angewiesen. Die Gruppe war alles, was man hatte: »Wie im normalen Leben, da hast du doch Freunde, Freundinnen, das gab es nicht.«
Wenn sie bei den früheren Genossen aus der Studentenbewegung oder den Basisgruppen anklopften, dann wurde ihnen die Tür vor der Nase zugemacht, nicht nur ein Mal. »Laß uns in Ruhe«, sagten die meisten – oder traurig: »Die kriegen euch doch, alle.«
Jünschke: »Aber keiner hat sich vor mich hingestellt und gesagt: ›Jetzt komm mal wieder zu dir, auf den Boden der Realitäten, was machst du für ’ne Scheiße, bleib ein paar Tage hier und schlaf dich mal aus!‹ Wir waren eben eine Autorität, wir waren bei der kämpfenden Truppe.«
Hilfe und Unterstützung fanden sie eher bei Freunden von früher, die keiner politischen Gruppe angehörten. Da konnte man schon mal eine Nacht bleiben. Und wenn die zaghaft ein paar kritische Worte zu der Gewaltpolitik der RAF äußerten, dann stellte man sich stur: »Arschloch, was weißt denn du davon? Aufhören? Das ist kein Thema. Das Haupt beugen? Nie. Da geh ich doch lieber tot, als mich in diesen Saustall von Gesellschaft wieder zu integrieren.«
Dann das Gefühl von Enttäuschung. Da hatte einer früher gesungen: »Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf.« Und als man bei ihm vor der Tür stand, da sagte er, sie
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