Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
lebenslänglich verurteilt ist. Du hast ja genügend Zeit, dich damit rumzuquälen. Es war eine Stimmung, in der eine sehr hohe Opferbereitschaft bestand. Rationales Denken im Sinne eines Kalküls hat überhaupt keine Rolle gespielt. Lebenslänglich? Was soll’s? Als Außenstehender mag das sehr unernst erscheinen, aber die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, war ernst. Nach der Zerschlagung des SPK gab es diese Verzweiflung, man mußte etwas tun. Als die SPK -Leute verhaftet wurden, habe ich mich oben aus dem Fenster gebeugt, das Grundgesetz in der Hand, und die Paragraphen runtergebetet: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹ Ein paar Monate später war ich bei der RAF .«
Jünschke fand sich zur verabredeten Zeit im Park ein. Niemand erschien. Für einen solchen Fall war ein anderer Treffpunkt verabredet worden: Er sollte eine Stunde später in einem Eiscafé sein. Jünschke klemmte die Zeitung unter den Arm und betrat das Café. Zwei etwas abgerissen aussehende Männer saßen an einem Tisch. Als sie den Mann mit der Zeitung entdeckten, verschluckten sie fast ihr Eis. Jünschke setzte sich an einen anderen Tisch und wartete. Nach einer Weile verließ einer der beiden Männer das Lokal, kehrte aber kurze Zeit darauf zurück.
»Komm mit«, forderte Jan-Carl Raspe ihn auf. Holger Meins folgte den beiden in hundert Meter Entfernung.
Raspe klingelte an der Tür einer Neubauwohnung. Eine Frau öffnete und ließ die beiden in die vollkommen leere Wohnung. Auf Jünschke wirkte die Frau wie eine Amerikanerin. Sie trug eine graue Perücke mit hochtoupierten Haaren und darüber ein Kopftuch. Ihr Pulli saß knalleng. Sie trug Hosen. Jünschke lehnte an der Wand und wartete. Er hatte sich für seine erste Begegnung mit den Illegalen feingemacht wie sonst nie: Er trug einen Blazer, weißes Hemd, Krawatte, graue Hose.
»Nun sag mal, wer du bist und was du machst«, sagte Ulrike Meinhof. Jünschke erzählte seine Vorgeschichte, über die, das merkte er an den Fragen, seine Gesprächspartner bereits gut unterrichtet waren. Als die Rede auf das »Sozialistische Patientenkollektiv« kam, sagte Ulrike Meinhof unvermittelt: »Aber Gruppensex gibt es bei uns nicht.«
»Wie kommst du denn darauf, daß ich Gruppensexinteressen hab?«
Gegen Ende des Gesprächs deuteten die anderen an, was Jünschke für die Gruppe tun könnte. »Da sind verschiedene Sachen, die für uns wichtig sind, zu erledigen. Das können wir nicht selbst machen, ohne uns zu gefährden. Es geht um Einkäufe. Bist du bereit, so etwas zu machen?« Jünschke stimmte zu. Es wurden vor allem Nummernschilder für Autos gebraucht.
Klaus Jünschke war Kriegsdienstverweigerer und hatte das mit den Worten begründet: »Ich kann keinen Menschen umbringen.« Er hatte das nicht nur so dahingesagt, er meinte es sehr ernst. Und plötzlich gehörte er zu einer Gruppe von Leuten, die bewaffnet herumliefen und keinen Zweifel daran ließen, daß sie ihre Waffen auch gebrauchen würden. Eines Nachts ging er mit Holger Meins durch Frankfurt. Holger fragte ihn: »Bist du eigentlich bewaffnet?«
»Nee, natürlich nicht.«
»Du mußt doch irgend etwas dabeihaben. Wenigstens ein Messer.«
Einige Monate später, kurz vor seiner Verhaftung, geriet Holger Meins in eine Schlägerei mit drei betrunkenen Rockern. Sie schlugen ihn zusammen. In der Gruppe wurde später darüber diskutiert: »Was macht man in einer solchen Situation?« Obwohl sein Nasenbein zerschlagen worden war, waren alle erleichtert, daß er seine Waffe nicht gezogen hatte.
Klaus Jünschke war der Zwiespalt, in dem er jetzt lebte, schmerzlich bewußt. »Ich kam in eine Situation, in der ich letztlich auch Sachen gemacht habe, die ich nicht mehr vor mir selbst rechtfertigen konnte. Da bin ich praktisch zusammengebrochen. Ich habe mich meine gesamte Haftzeit hindurch gequält wie ein Tier, gewehrt dagegen, daß ich verrückt werde. Weil ich das nicht integrieren konnte: die RAF und das eigene Leben und die Zukunft.«
Im August 1971 erhielt Jünschke den Auftrag, nach Hamburg zu fahren, wo die Gruppe seit dem Frühjahr ihren Hauptstützpunkt hatte. Dort traf er in einer Wohnung im Schanzenviertel die anderen. Andreas Baader, mit blondgefärbten Haaren, war in ausgezeichneter Verfassung. Wieder mußte Klaus Jünschke seine Vorgeschichte erzählen. Es war etwa so wie bei einem Vorstellungsgespräch in einer Firma. Jünschke empfand Baaders Ton als reichlich autoritär. Eigentlich wollte
er
ja wissen, was
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