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Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Titel: Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Aust
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Millimeter. Das Mädchen lief in eine Toreinfahrt, der junge Mann rannte durch einen Park auf eine Baustelle zu und versteckte sich unter einem Kran. Vom Hubschrauber »Libelle  1 « hatten Polizeibeamte die Flucht beobachtet. Sie schickten achtzig Kollegen zur Festnahme. Umzingelt gab Werner Hoppe auf, und während die Handschellen zuschnappten, fluchte er: »Scheißbullen, leckt mich am Arsch.«
    Das Mädchen glaubte, die Verfolger abgeschüttelt zu haben, und kam aus der Toreinfahrt hervor. Ein Polizist entdeckte sie und rief: »Halt, Mädchen – stehenbleiben!« Sie zog eine Pistole und schoß. Ein zweiter Polizist rief: »Mädchen, mach keinen Quatsch, gib doch auf.« Sie drehte sich um und feuerte, der Polizist schoß zurück. Die Kugel traf das Mädchen unter dem linken Auge.
     
    Um 16 . 23 Uhr meldete die Deutsche Presseagentur: »Ulrike Meinhof erschossen.« Doch die Tote war nicht Ulrike Meinhof, sondern die zwanzigjährige Petra Schelm.
    Drei Jahre zuvor hatte Petra Schelm noch als Friseuse in Berlin gearbeitet. Sie wollte Maskenbildnerin werden. Nach ihrer Lehre arbeitete sie für kurze Zeit in einem Kunstgewerbeladen. Anschließend bekam sie, gerade achtzehn Jahre alt, einen Job als Begleiterin einer amerikanischen Reisegruppe. Aus Rom, München, Paris und Madrid schickte sie Ansichtskarten an ihre Eltern. Dann kehrte sie nach Berlin zurück, lebte in einer Kommune und engagierte sich in der außerparlamentarischen Opposition. Sie lernte den jungen Filmstudenten und Bundeswehrdeserteur Manfred Grashof kennen. Petra stellte ihn ihren Eltern vor.
    Später, nach dem Tod seiner Tochter, sagte der Vater einem Reporter: »Vielleicht habe ich damals einen großen Fehler gemacht. Sie wollte den Mann heiraten, und ich sollte die Einwilligung zur Hochzeit geben. Es ging einfach über meine Kraft, dazu ja zu sagen. Und damit war der erste Bruch zwischen mir und meiner Tochter da. Der Junge hat sich eigentlich gar nicht mal danebenbenommen. Er hat sich ganz bescheiden an den Tisch gesetzt und hat meine Tochter reden lassen. Erst als ich nein sagte und erklärte, daß ich keinen verkommen aussehenden Schwiegersohn möchte, als ich also etwas kraß und unhöflich war, da wollte sich der junge Mann ins Gespräch einschalten. Ich habe ihm dann das Wort abgeschnitten, was eigentlich nicht richtig war, und gesagt: ›Wir brauchen darüber gar nicht zu debattieren.‹ Dann sind die beiden aufgestanden und gegangen.«
    Der Vater sah seine Tochter erst im Gerichtsmedizinischen Institut wieder – tot.
    Petra Schelm war das erste Todesopfer im Krieg der »sechs gegen sechzig Millionen«, wie es Heinrich Böll später formulierte.
     
    Zehn Tage nach der Hamburger Schießerei veröffentlichte das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut die Ergebnisse einer Repräsentativumfrage zum Thema »Baader-Meinhof: Verbrecher oder Helden?« Von den rund tausend Befragten befanden 18  Prozent, die Untergrundgruppe handele »auch heute noch vor allem aus politischer Überzeugung«. 31  Prozent äußerten keine Meinung. 82  Prozent kannten die Baader-Meinhof-Gruppe. Jeder vierte Bundesbürger unter dreißig gestand den Meinungsforschern »gewisse Sympathien« für die »Rote Armee Fraktion« ein. Jeder zehnte Norddeutsche erklärte sich sogar bereit, gesuchte Untergrundkämpfer für eine Nacht zu beherbergen; im Bundesdurchschnitt war es jeder zwanzigste.
    Die Demoskopen kamen zu dem Ergebnis, ihre Umfrage habe ein »schwieriges sozialpsychologisches Klima für die Fahndung der Polizei« ergeben. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« sorgte sich wegen der Hilfsbereitschaft der Bundesbürger: »Fünf Prozent wirken hier wie hundert Prozent.«
    Auf dieses Umfrageergebnis, damals sicher auch Reaktion auf den Tod der jungen Petra Schelm, berief sich die RAF in ihren Schriften immer wieder. Noch Jahre später im Stammheimer Prozeß führte Baader dieses Meinungsbild als Beweis dafür an, wie weit die Ideen der RAF in der Bevölkerung verbreitet seien.
     
    Gerhard Müller, der aus dem »Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg« zur RAF gestoßen war, berichtete im Stammheimer Prozeß über die Reaktion innerhalb der Gruppe auf den Tod Petra Schelms:
    »Die Pläne, Sprengstoffverbrechen zu verüben, sind nach dem Tod von Petra Schelm aufgetaucht.« Damals, im Juli 1971 , so erzählte Gerhard Müller, hätten sich alle in Manfred Grashofs Wohnung in der Heinrich-Hertz-Straße getroffen. »Als wir dort waren, hat Grashof gegenüber

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