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Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Titel: Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Aust
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dem Evangelischen Mädchenwerk auf Fahrt, wurde bald Gruppenführerin und leitete die Bibelarbeit.
    Auf ihrem Nachttisch lag die Zeitschrift »Rüste für den Tag« des Evangelischen Mädchenwerks. Sie las darin bis zu ihrem 22 . Lebensjahr.
    Als Pfarrer Helmut Ensslin sich zur Jahreswende 1958 / 59 an die Lutherkirche in Stuttgart-Bad Cannstatt versetzen ließ, ging Gudrun für ein Jahr als Austauschschülerin in die USA . Sie lebte in einer Methodistengemeinde in Pennsylvania. Die Amerikaner mochten sie, waren noch Jahre später von ihr begeistert. Gudrun galt als klug, sozial engagiert, sprachgewandt, weltoffen und hübsch. Sie selbst sah die Neue Welt mit kritisch-puritanischen Augen. Im Tagebuch notierte sie ihren Widerspruch zum amerikanischen Christentum, wo Kirchenbesucher, in eleganter Kleidung und mit Brillanten behängt, den sonntäglichen Gottesdienst zur Modenschau machten.
    Im Elternhaus hatte sie gelernt, daß Christentum nicht an der Kirchentür aufhört, sondern politisches und soziales Handeln einschließt. Sie war erschrocken über die politische Naivität ihrer amerikanischen Umwelt in der Ära Eisenhower.
    Zurück vom Schüleraustausch, bereitete sich Gudrun auf das Abitur vor. Die Lehrerinnen des Gymnasiums für Mädchen behielten sie als begabte und aufgeschlossene Schülerin in Erinnerung.
    1960 begann sie in Tübingen mit dem Studium der Germanistik, Anglistik und Pädagogik.
    1962 fragte sie bei einem der Wochenendbesuche ihren Vater: »Sag mal, kennst du einen Schriftsteller Vesper?«
    Pfarrer Ensslin kannte den Dichter Will Vesper, der Verse geschrieben hatte wie diesen:
    »Noch ziehen die kalten Nebel schwer,
    doch kamen schon Vögel vom Süden her
    und wohnten im Walde und singen schon
    in leise verhaltenem Ton.«
    Und Vater Ensslin, der Kriegsgegner und Antifaschist, erinnerte sich auch an ein Gedicht von Vesper, geschrieben, als die Hitlerarmee Polen überfallen hatte:
    »August 1939
    Mein Führer, in jeder Stunde
    weiß Deutschland, was du trägst,
    daß du im Herzensgrunde
    für uns die schwere Schlacht des Schicksals schlägst.
    In deiner Hand ohn’ Zagen
    fühl unsre Hand!
    Nun wag, was du mußt wagen,
    wozu dich Gott gesandt!«
    Gudrun hatte in Tübingen einen jungen Germanistikstudenten kennengelernt: Bernward Vesper, den Sohn des Blut-und-Boden-Dichters. Er haßte seinen Nazi-Vater und gab gleichzeitig ausgewählte Werke von ihm heraus. Gudrun und Bernward machten eine erste gemeinsame Reise nach Spanien.
    Nach ihrer Rückkehr erschien die Tochter dem Pfarrer Ensslin »stark erotisiert«, und als Gudrun ihren neuen Freund im heimischen Pfarrhaus vorstellte und er noch mehrmals auftauchte, setzte ihn der Vater jedesmal »wegen des Kuppeleiparagraphen« vor die Tür.
    Die Verlobung versöhnte die Familie. Man feierte im Kurhaus von Bad Cannstatt.
    Die Verlobten schmiedeten Zukunftspläne. Sie wollten zusammen einen Verlag gründen. Um weiterstudieren zu können, bemühte Gudrun Ensslin sich, in die »Studienstiftung des Deutschen Volkes« aufgenommen zu werden.
    In ihrem Lebenslauf schrieb sie: »Mein Berufsziel ist es, Lehrerin an einer höheren Schule zu werden. Dieser Wunsch ist seit dem 13 . Lebensjahr in mir lebendig; nur die Gründe dafür haben sich vertieft … Die Zeit in den USA hatte drei Schwerpunkte: Schule, Familie, Kirche … Ich persönlich bin in der amerikanischen Schule aufgewacht … wo ich meine Fächer selbst wählen sollte. Zwar sind einem zu frühem Spezialistentum Tür und Tor geöffnet, aber einen ›fruchtbaren Moment‹ darf und will ich nicht übersehen. Schwerer wiegt sicherlich dagegen die Tatsache, daß junge Menschen eine leitende, zwingende Hand hinter sich spüren wollen und müssen, um nicht nur das zu tun, was sie gern tun, sondern um auch etwas zu tun, dessen Sinn erst viele Jahre später offenbar wird.«
    Für die Hochbegabtenförderung wurde Gudrun zunächst nicht zugelassen. Sie legte erst einmal die Prüfung für das Lehramt an Volksschulen ab. Durchschnittsnote »befriedigend«. Beurteilung der Lehrfähigkeit: »ausreichend«.
    Kurz darauf, 1963 , gründeten Bernward Vesper und Gudrun Ensslin den Kleinverlag »Studio für neue Literatur«. Ein erstes Buch erschien: »Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe«. Gudrun hatte mit Autoren wie Horst Bingel, Max Brod, Hans Magnus Enzensberger, Stephan Hermlin, Anna Seghers, Erich Fried und vielen anderen korrespondiert und um Originalbeiträge für die

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