Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
rot an und schrie weiter. Da packte sie ihre Sachen, stand auf, sagte »dann gehe ich jetzt« und verließ den Unterricht. Konferenzen wurden abgehalten. Ulrike sollte von der Schule fliegen. Renate Riemeck schaltete sich ein. Ulrike durfte bleiben.
Sie arbeitete in der Schülermitverwaltung, wurde Mitglied der Europabewegung, war Mitherausgeberin einer Schülerzeitung. Als engagierte junge Christin schrieb sie 1955 in ihrer Abitursarbeit: »Die Begegnung mit dem Katholizismus war eine große Bereicherung für mich. Wir evangelischen Schülerinnen stießen dort auf echte Toleranz in dem gemeinsamen Bewußtsein der eigentlichen Wahrheit des Christentums …« Während der ersten Semester ihres Studiums setzte sie sich in einer aus der evangelischen Jugendarbeit hervorgegangenen Erneuerungsbewegung für die Aufnahme katholischer Elemente in die protestantische Liturgie ein.
Unmittelbar nach dem Abitur verließ sie Weilburg und Renate Riemeck, bezog in Marburg ein winziges möbliertes Zimmer und begann ein Studium der Pädagogik und Psychologie. Als Waise und Begabte erhielt sie ein Stipendium der »Studienstiftung des deutschen Volkes«. In der Mensa der Universität betete sie vor dem Essen. Sie war zwanzig Jahre alt.
In diesem Jahr 1955 , als die SPD für die allgemeine Wehrpflicht stimmte und den jahrelangen Kampf gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik aufgab, verließ Renate Riemeck ihre Partei. Aufrüstung war für sie ein verhängnisvoller Schritt in der Eskalation des Kalten Krieges. Als Verfechterin einer Aussöhnung mit Polen durch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, als Gegnerin von Adenauers Plänen zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr wurde sie heftig befehdet – und bekannt. Ende der fünfziger Jahre geriet sie deswegen in Konflikt mit ihrem Arbeitgeber, dem Land Nordrhein-Westfalen. 1960 , als sie in das Direktorium der DFU (Deutsche Friedensunion) gewählt wurde, gab Renate Riemeck ihre Professur auf.
Zum Wintersemester 1957 zog Ulrike Meinhof von Marburg nach Münster. Wie in anderen Universitätsstädten hatte sich auch dort um den Sozialistischen Deutschen Studentenbund ( SDS ), der Studentenorganisation der SPD , ein »Anti-Atomtod-Ausschuß« gebildet. Ulrike Meinhof wurde zu dessen Sprecherin gewählt.
Das Jahr 1957 war ein Jahr dramatischer politischer Entwicklungen in der Bundesrepublik. Am 12 . April wurde die »Göttinger Erklärung« veröffentlicht. Achtzehn westdeutsche Atomwissenschaftler und Nobelpreisträger wandten sich gegen jede atomare Bewaffnung der Bundeswehr: »Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Ebenfalls wäre keiner der Unterzeichner bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen …«
Zu Ostern verlas Albert Schweitzer über Radio Oslo einen »Appell zur Einstellung der Kernwaffenversuche«.
Die Aufrufe fanden die Zustimmung zahlreicher Gewerkschafter.
Im Juli folgte ein Aufruf von Professoren, Künstlern, Lehrern und Schriftstellern. Ehemalige Mitglieder der »Bekennenden Kirche« schlossen sich den Protesten an.
Im Mai 1958 trat Ulrike Meinhof dem SDS bei.
Sie veröffentlichte Artikel zur Atomfrage in zahlreichen studentischen Zeitungen, organisierte Veranstaltungen, Unterschriftensammlungen und einen Vorlesungsboykott mit, bereitete Kundgebungen gegen die Atombewaffnung vor. In elf Universitätsstädten wurden Ende Mai 1958 Protestaktionen gegen die atomare Bewaffnung organisiert. Im tiefschwarzen Münster zogen 5000 Studenten in einem Schweigemarsch durch die Stadt. Zum Abschluß dieser Demonstration ordentlich gekleideter Studenten in Schlips und Kragen und Studentinnen in Röcken erlebten die Demonstranten eine für damalige Zeiten kleine Sensation. Nach einem Pfarrer, einem Gewerkschafter und einem Professor betrat eine knapp über zwanzig Jahre alte Studentin das Podium und hielt eine Rede. Ulrike Meinhof hatte die politische Arena betreten.
Die Nachricht von der selbstbewußten jungen Friedensaktivistin mit der Sophie-Scholl-Frisur erreichte auch die Redaktion der linken Studentenzeitschrift »konkret« in Hamburg, die sich ebenfalls in der Anti-Atom-Bewegung engagierte.
6. Die Chefredakteurin
Anfang der fünfziger Jahre war die Zeitschrift »Studentenkurier« in Hamburg gegründet
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