Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Anthologie gebeten.
Aus einem Beitrag von Rudolf Rolfs: »Man könnte, angefangen bei der Korruption über die Lüge bis zum Betrug, eine lange Liste jener Dinge aufzählen, die heute für ›relativ normal‹ gehalten werden, da sollte man sich nicht scheuen, als Pazifist für ›irre‹ gehalten zu werden. ›Normal‹ ist Egoismus! ›Normal‹ sind Geschäftemacherei, Rücksichtslosigkeit und Selbstherrlichkeit. Deshalb gibt es kein größeres Kompliment, als in diesem Reigen für ›irre‹ gehalten zu werden!«
In dem Beitrag von Günther Anders war Gudrun Ensslin besonders von den Sätzen fasziniert: »Die geschriene Wahrheit ist wahrhaftiger als die Wahrheit, die nicht ankommt. Der verzweifelte Frevel tugendhafter als die Tugend, die niemals verzweifelt!«
Doch neben dem Interesse an fortschrittlicher Literatur hatte das Pärchen auch einen Sinn für Tradition. In seinem Buch »Die Reise«, das erst nach seinem Tod erschien, schrieb Bernward Vesper: »Meine Geschichte zerfällt deutlich in zwei Teile. Der eine ist an meinen Vater gebunden, der andere beginnt mit seinem Tod. Als er starb, flüsterte ich ihm noch den Namen Gudrun ins Ohr, die ich gerade kennengelernt hatte. Sterbeszene. Ich saß acht Tage an seinem Bett und heulte.«
1963 planten Gudrun und Bernward, eine siebenbändige Werkausgabe mit den Novellen des rechten Vaters herauszugeben. Unter dem Briefkopf »gudrun ensslin, 7 stuttgart-cannstatt, wiesbadener str. 76 « findet sich im Nachlaß Vespers ein auf den 11 . September datiertes zweiseitiges Manuskript mit dem Titel »Liebe, Traum und Tod. Zum ersten Band der Gesamtausgabe der Will-Vesper-Werke. – Eine Aufgabe für das nationale Deutschland«. Die Herausgeber wollten einen Verfemten, der »mit vielen seiner Zeitgenossen das Schicksal des Vergessenwerdens« teilen mußte, einer neuen Generation zugänglich machen.
Es war der Herbst der »Spiegel-Affäre«, als Tausende gegen die Übergriffe des Adenauer-Staates und gegen Franz Josef Strauß auf die Straße gingen. Auch Gudrun Ensslin und Bernward Vesper waren unter den Demonstranten. Der NPD -nahe »Deutsche Studentenanzeiger« nannte die Proteste »vom Osten gesteuerte, landesverräterische Umtriebe«, was Bernward Vesper zu einem Protestbrief an das Blatt veranlaßte. Als der »mit Rücksicht auf den hochverehrten Will Vesper« nicht gedruckt werden sollte, schrieb Gudrun am 28 . Dezember einen Brief an den zuständigen Redakteur, in dem sie die Haltung des Nazi-Dichters mit der protestierender Studenten verglich: »Im Hinblick auf den persönlichen Mut, den Will Vesper Zeit seines Lebens gezeigt hat (allen Denkschemata zum Trotz), läßt sich immer wieder nur eines tun: individuell das Gewissen entscheiden lassen.« Genau darum seien jetzt auch »Abertausende Studenten einen endlos schweigenden Protestmarsch mitgegangen … allein aus der Überzeugung, daß Kräfte und Methoden, wie sie in unserem Staat gegen Individuen angewandt wurden, nur durch persönliches Bekenntnis beantwortet und bekämpft werden können«.
Als Gudrun Ensslin nach einem zweiten Anlauf das Stipendium der Studienstiftung erhielt, zog sie mit ihrem Verlobten nach Westberlin und schrieb sich an der Freien Universität ein.
Schon bald nach ihrer Ankunft arbeiteten beide im »Wahlkontor der Schriftsteller« für den Sieg der SPD bei der anstehenden Wahl zum Bundestag 1965 .
Ein knappes Jahr später kam die Ernüchterung. Bundeskanzler Erhard trat zurück, die Große Koalition wurde gebildet. Plötzlich saßen Brandt und Schiller, für die sie sich engagiert hatten, neben den politischen Gegnern von gestern, Kiesinger und Strauß, auf der Regierungsbank. »Wir mußten erleben«, sagte Gudrun später, »daß die Führer der SPD selbst Gefangene des Systems waren, die politische Rücksichten nehmen mußten auf die wirtschaftlichen und außerparlamentarischen Mächte im Hintergrund.«
Gudrun gewann Abstand zum festgefügten, strengen und sittsamen Pfarrhaushalt in Bad Cannstatt, wo auf Familiengemeinschaft geachtet wurde, wo sich Kinder und Eltern am Abend in »heiterer Singekreisatmosphäre« trafen, wie es Gudruns Schwager später einmal formulierte.
Die Beziehung Gudrun Ensslins zu Bernward Vesper war offenbar eine ähnlich tödliche Umklammerung wie die später zu Andreas Baader. In seinen Notizbüchern ist die Rede von seinem »sado-masochistischen Verhältnis zu Gudrun«.
Nach der gemeinsamen Spanienreise schrieb Gudrun ein literarisch
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