Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Kaufhaus Schneider eine Tüte gelegt zu haben, die eine Maschine enthielt. Sie sollte den Schrank zerstören, mehr nicht. Wir hatten nicht den Vorsatz, Menschen zu gefährden oder auch nur einen wirklichen Brand zu verursachen.« Die beiden anderen Angeklagten, Thorwald Proll und Horst Söhnlein, schwiegen.
Am vierten Tag sagte Gudrun Ensslins ehemaliger Verlobter Bernward Vesper als Zeuge aus. Er überreichte Gudrun rote Rosen und hielt danach ein einstündiges flammendes Plädoyer für die Angeklagte.
Kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes habe Gudrun an einer Vietnamdemonstration teilgenommen. Ein Polizist habe gefragt, was sie sich dabei denke, zu Demonstrationen zu gehen, wenn sie ein Kind von sechs Wochen habe. »Gerade deshalb demonstriere ich, weil ich jetzt die Verantwortung für mein Kind habe«, antwortete Gudrun Ensslin.
»Ich habe manchmal gedacht«, sagte Vesper, »daß es für sie unmöglich war, diese inneren Widersprüche auszuhalten.« Gudruns Weg, so führte er vor Gericht aus, sei »eine deutliche, nachweisbare Kette von Frustration, die das sensible und zugleich willensstarke, ohnmächtige und zugleich Veränderung erstrebende Bewußtsein erfährt«. Schon im heimischen Pfarrhaus habe sie den Widerspruch zwischen religiöser Ideologie und der Praxis erfahren, der »sichtbar wurde, als ihr selbst der Ausbruch aus dem sexualitätsverneinenden, zu Passivität und Masochismus drängenden Elternhaus gelingt und sie das Liebesverbot durchbricht«. Durch die Auseinandersetzung mit der Kirchengemeinde und der Beschäftigung mit dem Dichter Hans Henny Jahnn sei ihr klar geworden, »daß in der Geschichte der Religion mehr Menschen ermordet wurden als in den KZ des Nazismus«.
Er setzte Vietnam mit Auschwitz gleich und kam zu dem Ergebnis: »Nicht das Verbrechen wird bekämpft, sondern derjenige, der es bewußt macht.« Am Ende war er bei der Psychopathologie des Protestes angelangt: »Jeder Psychoanalytiker kennt die Phase, in der ein Patient ihn attackiert, wenn er sich im Verlauf der Behandlung den entscheidenden Komplexen nähert. Das gleiche geschieht mit denjenigen, die die kranke Gesellschaft zwingen, ihre eigene Krankheit einzugestehen. Sie verfallen der Verurteilung.«
Als einzige der vier Angeklagten hatte sich Gudrun Ensslin bereit erklärt, mit einem vom Gericht bestimmten Gutachter zu sprechen, dem Frankfurter Psychiater und Gerichtsmediziner Reinhard Rethardt. Dreimal sprach er jeweils ein bis zwei Stunden mit Gudrun. Der Psychiater gewann den Eindruck, sie sei »von einer außerordentlich verbindlichen Freundlichkeit, aber innerlich starr, unabdingbar«.
Einmal sagte Gudrun Ensslin: »Wir wollen kein Blatt in der Kulturgeschichte sein.« Rethardt antwortete: »Das ist der Schrei des Menschen nach Ewigkeit.«
Der Psychiater kam zu dem Ergebnis: »Sie hatte eine heroische Ungeduld. Sie leidet unter dem Ungenügen unserer Existenz. Sie wollte nicht mehr warten. Sie wollte in die Tat umsetzen, was sie letztlich im Pfarrhaus gelernt hatte. Sie wollte den Nächsten en gros erfassen – gegen seinen Willen. Die Brandstiftung ist ein Versuch gewesen, ein paar Treppen auf den Stufen zu überspringen. Sie denkt einen Gedanken unbeirrt bis zum Ende, bis vor die Wand.«
Im Prozeß erstattete Rethardt sein Gutachten mündlich. Gudrun Ensslin schien es plötzlich peinlich zu sein, daß sie sich so lange und intensiv mit dem Psychiater unterhalten hatte, und sie versuchte, ihn durch spitze Fragen in die Enge zu treiben. Der Psychiater erklärte sich das so: »Sie hat das getan, um die Eintrittskarte zurück zur Gruppe zu bekommen.«
Gegen Ende des Prozesses plädierten die Verteidiger. Professor Heinitz, der Gudrun Ensslin vertrat, sagte: »Die Angeklagte ist nicht nur Überzeugungstäterin, sondern Gewissenstäterin.« Es liege auf der Hand, daß sie mit der Brandstiftung die Öffentlichkeit aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Vietnamkrieg habe aufrütteln wollen. Dies sei eine Gewissensentscheidung der Angeklagten gewesen: »Es gibt nun einmal auch ein irrendes Gewissen.«
Rechtsanwalt Horst Mahler versuchte, als Verteidiger Andreas Baaders dem Gericht die Motive für die Brandstiftung nahezubringen. Das Grundmotiv sei nicht in erster Linie Protest gegen den Vietnamkrieg gewesen, sondern eine Rebellion gegen eine Generation, die in der NS -Zeit millionenfache Verbrechen geduldet und sich dadurch mitschuldig gemacht habe. Die Angeklagten hätten daraus die Konsequenz gezogen,
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