Der Babylon Code
und blieben an einer Stelle hängen, wo persönliche Schnappschüsse die Wand zierten. Da waren Bilder von einem älteren Ehepaar, Jasmin inmitten eine Gruppe junger Menschen in einem Forschungslabor, dann ein Foto von ihr im Grünen…
»Deine Schwester?«, fragte er unvermittelt, als er auf einem Bild Jasmin, eine weitere Frau und einen Jungen sah. Die beiden Frauen waren unverkennbar Schwestern, wenn auch die Frau neben Jasmin deutlich älter wirkte, ihr Gesicht voller Sorgenfalten war. Der Junge mochte fünf, sechs Jahre alt sein. Er blickte ernst und mit den wissenden Augen eines viel Älteren in die Kamera. Chris erinnerte sich an das Spielzeug in der Reisetasche.
Als sie nicht antwortete, wandte er den Kopf zu ihr. Sie wischte sich gerade mit den Händen über die Augen.
»Ja. Meine Schwester und ihr jetzt siebenjähriger Sohn. Sie leben in Südschweden.« Ihre Stimme klang abwehrend, als sei es ihr unangenehm, darüber zu reden.
»Kein Mann…«
»Doch. Bei der Zeugung. Dann sitzengelassen – kurz nach der Geburt.« Sie verzog das Gesicht. »Ich bin müde. Ich gehe schlafen«, sagte sie abrupt.
»Ich habe die Reisetasche mit dem Plüschdrachen gesehen.«
Sie nickte, stellte das Glas mit einem Ruck ab, riss die Decke zur Seite und sprang auf.
»Ich werde sie besuchen. Morgen.«
Chris brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Halb zehn.
Er stand auf und öffnete die Tür zum Flur. Im Hausflur plärrte ein Kind, dann schimpfte die Mutter. In der Küche klapperte Geschirr, und Kaffeeduft zog durch die Wohnung.
»Guten Morgen«, sagte er müde.
»Hallo.« Sie stand am Toaster, sah über die Schulter und lächelte. Es war wieder dieses spöttische Lächeln, das er im Institut und in der Pizzeria kennen gelernt hatte. Es schien ein wenig gekünstelt, aber von der bedrückten Stimmung in der Nacht war nichts zu spüren. »Einigermaßen geschlafen?«
»Alles bestens.« Er grinste und verzog sich ins Bad, rasierte sich und duschte ausgiebig. Dann zog er eines der T-Shirts an, die er am Vortag in dem Billigladen gekauft hatte.
»Ausgesprochen vorteilhaft«, sagte Jasmin belustigt, als er die Küche betrat und sie das bunt bedruckte Shirt mit der Strandszene sah. »Ganz besonders gefallen mir die Palmen.«
Sie trug Jeans und ein helles Top, war dezent geschminkt und kontrollierte irgendwelche Reisepapiere.
»Verlegenheitskauf. Ich hatte zu wenig für die Reise eingepackt.« Er setzte sich an den kleinen Tisch und beobachtete sie, wie sie einen letzten Blick auf das Flugticket warf.
»Du verreist heute?«
»Ja.«
Er nahm sich Kaffee und wartete, aber sie ergänzte ihre kurze Antwort nicht.
»Ich habe das gestern Abend nicht mehr so richtig verstanden. War zu müde. Du fährst zu deiner Schwester und deinem Neffen.«
»Eher zu meinem Neffen, ja.«
Er spürte augenblicklich die Veränderung in ihrer Stimme. Wieder war da diese abwehrende Melancholie, die sie auch am vergangenen Abend erfasst hatte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und packte die Handtasche weiter, stellte sie dann etwas zu heftig auf der Küchenplatte ab.
Scheiße, dachte er. Es war offensichtlich das falsche Thema.
»Du hast noch nicht viel von dir erzählt. Was machst du genau?«, fragte Chris und hoffte, sie würde auf die Ablenkung eingehen.
»Ich?« Sie lachte unruhig. »Biochemikerin. Erst am Max Planck-Institut als Studentin, wo ich auch Wayne kennen gelernt habe. Er hat mir dann später den Job in der Firma vermittelt. Seitdem helfe ich ihm. Moleküle, Proteine, früher nannte man das Eiweiß, Enzymforschung. Die kleinen Botenstoffe, die alles im Körper erst möglich machen.«
Sie drehte sich um und setzte sich an den Tisch. Ihre blauen Augen waren hell und klar, und das schelmische Lächeln hatte wieder die Oberhand gewonnen. Sie nippte an ihrem Kaffee.
»Wie kommt man nach Dresden? Ausgerechnet nach Dresden?«
»Zufall.« Sie lächelte. »Ich hatte eine Brieffreundin in Dresden, habe sie mal besucht. Die Freundschaft entwickelt sich, man sucht einen Studienplatz im Ausland – und hier wird was Interessantes aufgebaut. So passiert das.«
»Du isst nichts?« Chris zeigte auf die Toasts, aber sie schüttelte nur den Kopf.
»Hab schon.«
Chris nahm sich zwei Toasts, bestrich sie mit Butter und Marmelade. »Proteine. Ich dachte, die Gene…«
»Es ist für Laien nur schwer verständlich.«
»Versuch es.«
»Proteine machen mehr als fünfzig Prozent des Trockengewichts von Zellen aus und sind die wichtigste
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