Der Babylon Code
es keine Tränen, nur unendliche Traurigkeit.
Jacques Dufour kam mit ruhigem Schritt den Gang entlang und trat in das Zimmer, ohne Jasmin anzusehen. Anna sprach leise und eindringlich zu Mattias, dann stand sie auf und folgte dem Arzt. Sie gingen den Flur hinunter in einen Besucherraum.
Schweigend nahmen die beiden Frauen Platz und starrten auf Dufour, der seltsam gequält und nachdenklich nach der Mappe auf dem kleinen Tisch griff.
»Ich muss Ihnen leider sagen«, wandte sich Dufour an Anna, »dass Ihr Sohn tatsächlich an der erblich bedingten Stoffwechselerkrankung Alpha-1 Antitrypsinmangel leidet. Mit der Ausprägung des Phänotyp ZZ liegt die Serumausbildung bei maximal zwanzig Prozent der Normalkonzentration – mit der entsprechend hohen Gefahr, dass sich die Krankheitsbilder manisfestieren können.«
Der Arzt bestätigte nur, was sie bereits wussten. Auf dem langen Arm des Chromosons 14 war es zu einer Punktmutation gekommen. Die Aminosäure Glutamin war ausgetauscht gegen die Aminosäure Lysin.
Das Enzym Antitrypsin gehört zu den Akutphase-Proteinen, das bei Entzündungen im Körper in der Leber verstärkt zum Kampf gegen eiweißabbauende Proteine gebildet wird. Durch den Austausch der Aminosäure verändert sich die Peptid-Faltung, und das Enzym lagert sich am Entstehungsort der Leberzelle ab, anstatt als Serum dem Körper zur Verfügung zu stehen. Durch die Anhäufung des fehlerhaften Enzyms können die Leberzellen zerstört werden.
»Mattias gehörtzuden Kindern, die von der schwersten Form betroffen sind und als Folge eine irreversible Lebererkrankung entwickeln.«
Jasmin starrte ihre Schwester an. Scharfe Linien hatten sich in Annas Gesicht gegraben, durchzogen die Haut wie Canyons. Die Lippen waren zu schmalen und verbissen zusammengepressten Strichen verkümmert, und die Lachfältchen waren zu Sorgenfalten mutiert.
Jasmin wusste, wie sehr sich Anna mit Vorwürfen überhäufte, nicht früher reagiert zu haben. Aber das war Unsinn. Die Krankheit war nicht ganz selten, und schwere Lebererkrankungen waren keine automatische Folge.
»Als es bemerkt wurde, war es nicht mehr aufzuhalten.« Anna kamen die Worte nur schwer über die Lippen. »Die Ärzte sagten, die Transplantation sei die einzige Möglichkeit der Rettung. Es ist ein Albtraum.«
»Warum ist es bisher nicht dazu gekommen?«, fragte Dufour und zuckte innerlich zusammen. Immer wieder »Warum?«. Warum war das Experiment mit Mike Gelfort gescheitert? Warum war der junge Amerikaner gestorben? Warum hatte er ihn dazu gebracht, dem Experiment zuzustimmen? Warum wussten sie noch nicht… Warum nun dieser kleine Junge?
»Erst einmal musste eine entsprechende Kinderleber zur Verfügung stehen. Spender und Empfänger sollen gewichtsmäßig nicht mehr als fünfundzwanzig Prozent auseinander liegen. Der Tod eines anderen Kindes sollte Mattias retten. Aber dann war die Leber nicht geeignet. Das kommt in nicht einmal zwanzig Prozent der Spenderorgane vor.«
Jasmin schauderte bei dem Gedanken, was Anna danach durchgemacht hatte.
Immer häufiger diskutierte ihre Schwester mit ihr über die Möglichkeit der Leberlebendspende. Da die Leber aus zwei Lappen besteht, von denen der linke deutlich kleiner ist als der rechte, gab es die Möglichkeit, dass ein gesunder Elternteil seinen linken Leberlappen an sein Kind spendet. Dies hatte dazu geführt, dass die Warteliste bei Kindern vergleichsweise klein war.
Jasmin erinnerte sich mit Grausen an den Abend, als Anna sie gefragt hatte, ob sie auch zu einem solchen Opfer bereit wäre.
»Ich kann dir diese Frage nicht beantworten. Rein hypothetisch sowieso nicht. Ich kann nicht einfach sagen, ja, mache ich. Die Frage kann ich erst beantworten, wenn es konkret wird. Alles andere ist in meinen Augen unehrlich. Wieso fragst du?«
Anna hatte angefangen zu heulen. Hemmungslos.
»Ich habe mich entschlossen, meinen linken Leberlappen zu spenden. Für meinen Sohn!«, hatte sie unter Tränen geschrien.
»Aber es geht nicht! Ich habe eine andere Blutgruppe. Die gleiche Blutgruppe aber ist Voraussetzung.«
Zwei Tage war Jasmin wie betäubt durch die heimatlichen Wälder gelaufen, dann hatte sie sich der entscheidenden Untersuchung gestellt. Aber auch ihre Blutgruppe passte nicht und hatte sie vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens bewahrt.
Eine letzte Hoffnung keimte auf, als eine Splitleber-Transplantation doch noch möglich schien. Der linke Leberlappen eines fremden Erwachsenen sollte Mattias retten.
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