Der Bademeister: Roman (German Edition)
was ich in den Blick nehme, sondern auch alles, was am Rand geschieht. Man kann nicht gleichzeitig dreißig Schwimmer im Auge behalten, ein Becken, das zwanzig Meter lang ist, überblicken, wenn man nicht lernt, die unscheinbarste Bewegung an den verschwommenen Rändern des Sehfeldes wahrzunehmen. Sicher und ohne zu stolpern bin ich um das Becken herumgegangen, habe aus den Augenwinkeln sogar die Eingänge zu den Auskleidekabinen und die Galerie gesehen. Jetzt geraten mir die eigenen Füße ins Blickfeld, und das ist ein Teil der Unordnung, die um sich greift. Früher habe ich Badesandalen, selten nur die weißen Turnschuhe getragen, frühmorgens oder abends, wenn keine Schwimmer mehr im Wasser waren. Inzwischen sind sie vom Kohlenstaub im Keller grau und voller schwarzer Flecken, und am linken Schuh sitzt unterhalb des Knöchels ein Brandloch, weil ein Funke aus dem Ofen gesprungen ist. Immer wieder senke ich den Blick, laufe entlang des Streifens roter Fliesen, der vor dem Beckenrand warnt, verliere das Becken und die Galerie aus dem Blick, sehe nur undeutlich, dass sich dort etwas bewegt, aber auf meine Rufe antwortet keiner.
Seit heute Morgen umkreise ich das Schwimmbad wieder, gehe langsam von Pfeiler zu Pfeiler, unsicher, weil ich außer Übung bin. In den ersten drei Wochen nach meiner Entlassung bin ich durch die Stadt gelaufen. Ich habe wieder leise vor mich hingeredet, die Kinder haben mich ausgelacht, wie früher. Guck dir den an, der führt Selbstgespräche. Ein Selbstredner, hat ein Junge laut gerufen. Sie sind ein Stückchen hinter mir hergelaufen, und die Passanten haben mich angeschaut. Kindern muss man das nicht übelnehmen. Aber die anderen haben mich verleumdet. Der Hausmeister konnte mich nie leiden. Der hält sich für was Besseres, hat er behauptet. Ist ja verrückt, der redet mit sich selbst. Ich habe ihm nichts getan. Mit wem hätte ich denn reden sollen? Wenn ich zu seinem Kiosk komme, begrüßt Cremer mich freundlich. Guten Morgen, Hugo. Guten Abend, Hugo. Dann schweigt er oder liest mir aus einer Zeitung vor. Früher haben wir über seine Tochter Tanja gesprochen. Hast du das gelesen, fragt er mich, obwohl er weiß, dass ich keine Zeitung lese, und will mir vorlesen. Seit dem Tod meiner Mutter habe ich ihn nicht mehr gesehen. Sei doch froh, dass du entlassen bist. War höchste Zeit, dass du da wegkommst. Du kannst ja wieder Bücher lesen, sagte er, obwohl ich ihm erzählte, dass meine Mutter schon vor Jahren meine Bücher in Kisten gepackt hatte. Sie fangen nur Staub, behauptete sie, und ich selbst musste sie hinunter auf die Straße tragen. Die Warntafeln und Hinweisschilder im Schwimmbad kenne ich längst auswendig.
Ich habe jahrelang geschwiegen. Das ist jetzt vorbei. Sie hören ja, dass ich nicht verrückt bin. Seit ich auf dieses Geräusch warte, ist mir die Stille unerträglich. Sogar im Halbdunkel sieht man, wo in der Wand ein Loch klafft.
Drei Wochen bin ich durch die Stadt gelaufen. Es ist mein gutes Recht, hier zu sein. Wohin soll ich denn sonst?
Ich hatte den Schlüssel zum Seiteneingang. Ein schmaler, niedriger Gang führt von dort zum Heizungskeller. Ich habe ihn nie zuvor benutzt. Als ich nach Wochen die Schwimmhalle zum ersten Mal betrat, blieb ich wie angewurzelt an der Treppe stehen und starrte im Dämmerlicht aufs Schwimmbecken. Ich hörte Stimmen, Stimmen und Wasserspritzen, und sah die Badegäste einen nach dem anderen ins Wasser steigen. Sie tauchten nicht wieder auf. Erschreckt lief ich zum Beckenrand, stand da mit ausgestreckten Armen, wollte all das rufen, was ein Bademeister rufen muss, um Unglück zu verhindern, aber die Sätze klangen fremd und lächerlich. Einen Moment dachte ich, ich hätte mich getäuscht und große, hohle Plastikpuppen trieben auf der Wasserfläche, doch dann lösten sich kichernd drei Kinder von der Wand, rannten um die Wette und sprangen von der Seite, obwohl Springen von den Seiten verboten ist. Hören Sie? Jemand treibt Schabernack mit mir, um mich lächerlich zu machen. Aber ich lasse das nicht zu. Ich erinnere mich genau an alles, was vorgefallen ist.
All die Jahre habe ich Leute kommen und gehen sehen und wusste ihre Namen nicht. Ich wollte sie nicht wissen und habe das Gespräch mit ihnen nicht gesucht. Keiner ist ertrunken, mein Leben lang, und ich habe niemandem Schaden zugefügt.
Wenn es hier Mikrophone gibt, müssen sie da versteckt sein, wo die Pfeiler in die Bögen übergehen. Dort ist ein schmaler Vorsprung, der den
Weitere Kostenlose Bücher