Der Bann (German Edition)
verschwollen und fleckig. Sie gähnte und blinzelte zu ihrer Mutter hoch.
«Na, magst du frühstücken, Kiddo?», fragte Hannah bemüht heiter.
Leah blinzelte. Nickte wortlos.
«Das ist meine Tochter.»
Nachdem sie mit ihrem Frühstück aus Baguette, Käse und Schinken fertig waren und alles mit Orangensaft hinuntergespült hatten, wusch Hannah das Geschirr ab. Dann zogen sich beide an und gingen nach draußen. Hannah hatte das Haus seit ihrer Ankunft nicht verlassen. Sie wollte sehen, wie sich die Umgebung seit ihrem letzten Aufenthalt verändert hatte – wollte abschätzen, ob der Ort immer noch so versteckt und sicher war, wie sie ihn in Erinnerung hatte.
«Das wird unser neues Zuhause?», fragte Leah.
«Ja, das wird es. Gefällt es dir?»
«Hat es einen Namen?»
«Le Moulin Bellerose.»
«Französisch.»
«Das ist richtig.»
«Kannst du Französisch?»
Hannah lächelte und schlang den Arm um ihre Tochter. «Ja. Ich kann Französisch. Und du wirst es ebenfalls lernen.» Le Moulin Bellerose befand sich inzwischen seit neun Jahren in ihrem Besitz, und niemand außer Nate hatte davon gewusst. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Charles seine Anlagen liquidiert und den Erlös zum Erwerb mehrerer erschwinglicher Immobilien an abgelegenen Orten eingesetzt – er hatte sie
Unterschlupfe
genannt –, dazu gedacht, vorübergehend Zuflucht zu finden, sollte Jakab sie jemals aufspüren. Als Leah geboren und Charles noch besorgter um ihre Sicherheit wurde, hatte er Hannah eine größere Summe Geld geschenkt.
Kauf ein Haus, irgendwo weit weg von hier. Irgendwo, wo ihr alle hin könnt, wo ihr anonym seid, sollte es zum Schlimmsten kommen. Sag mir nicht, wo es ist. Ich will es nicht wissen. Auf diese Weise ist die Chance geringer, dass ich euch verrate.
Hannah hatte den Bauernhof während eines Familienurlaubs in Frankreich gefunden, als Leah gerade sechs Monate alt gewesen war. Sie hatte nur die Hälfte des Geldes benötigt, das ihr Vater ihr gegeben hatte – und aus gutem Grund. Das Dach des aus gelbem Kalkstein erbauten Hauses war eingefallen. Es gab keine Heizung, keine Elektrizität, kein fließendes Wasser. In einem der Zimmer wuchs ein Baum.
Im folgenden Sommer hatte Nate vierzehn Tage damit verbracht, Balken zu sägen, Sparren zu setzen und das Dach mit den alten Dachziegeln neu zu decken und die zu ersetzen, die nicht mehr zu retten waren. Im Sommer danach hatte er das Haus an die Wasserversorgung angeschlossen sowie einen Öltank und einen Brennofen eingebaut. Sie hatten Le Moulin Bellerose zu ihrem geheimen Zufluchtsort gemacht. Nicht nur einem Unterschlupf, sondern einem Idyll.
Die vordere Hälfte des Grundstücks nahmen zwei Weizenfelder ein, getrennt durch einen geschotterten, von Bäumen gesäumten Weg, der zur Hauptstraße führte. Das gesamte Land war umgeben von einem Laubwald aus Eichen, Kastanien und Walnussbäumen. Unter den Bäumen lebten Rehwild, Eichhörnchen und leuchtend gelbe Kleopatra-Falter. Tagsüber lauschten sie den Gesängen von Misteldrosseln und Goldfinken und abends den durchdringenden Rufen von Waldkäuzen und den endlosen Gesängen der Nachtigallen.
Die Küche des Hauses zeigte nach Süden. Sie öffnete sich zu einem kleinen Obstgarten voller Pflaumenbäumen, vernachlässigt und verwildert, als sie die Farm gekauft hatten, seither jedoch gedeihend. Unterhalb des Obstgartens führte ein Weg durch Waldland zum Nordufer der Vézère, eines der Nebenflüsse der Dordogne weiter im Südwesten. Der Hof und das zugehörige Land waren von einer hufeisenförmigen Flussschleife umschlossen. Anfang des vergangenen Jahrhunderts war ein Mühlbach angelegt worden, um Wasser vom Fluss zu einer Wassermühle zu leiten. Die Mühle stand noch immer am westlichen Rand des Grundstücks.
Wie der Hof war auch die Mühle eine Ruine gewesen, als sie zum ersten Mal hergekommen waren, Heimat einer Kolonie von Zwergfledermäusen, die an den Deckenbalken gehangen hatten wie ein lebender Pelzmantel. Nate hatte das Dach repariert und alle Fenster bis auf eines neu verglast, sodass die Fledermäuse ihr Heim weiter bewohnen konnten. Er hatte davon gesprochen, die Mühle umzubauen, um ihren eigenen Strom zu produzieren. Seine Skizzen und Pläne lagen noch in der Schreibtischschublade im Wohnzimmer.
Le Moulin Bellerose war ein Ort der Schönheit, Kulisse Tausender kostbarer Erinnerungen, und als Hannah mit Leah nach draußen ging und den vertrauten Duft der aufgeplatzt am Boden liegenden Pflaumen
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