Der Bann (German Edition)
einatmete, ließ die Wärme dieser Erinnerungen, schon so fern und so fragil, den Schmerz ihres Verlustes neu aufflammen.
Sie pflückte eine Pflaume vom nächsten Baum und reichte sie ihrer Tochter. «Hier, probier eine, solange es noch geht. Die Saison ist fast vorbei.»
Das Mädchen biss hinein. «Süß», sagte Leah und lächelte.
«Dein Vater hat einmal im Sommer so viele Pflaumen gegessen, dass er hinterher zwei Tage lang Bauchweh hatte.»
Bei der Erwähnung ihres Vaters wurde Leah ernst. «Wohin gehen wir?»
Hannah bemerkte das Glitzern von Tränen in den Augen ihrer Tochter. Sie wusste, dass Leah nicht so von ihrer Mutter gesehen werden wollte, daher nahm sie ihre Hand und zeigte den Weg entlang. «Dort entlang geht es zum Fluss. Möchtest du ihn sehen?»
Leah nickte und nahm einen weiteren Bissen von der Pflaume.
Sie folgten dem Weg durch ein Gehölz, über raschelnde tote Blätter und Zweige. Die Morgensonne stand tief, und der Himmel war blass und klar. Im tiefen Schatten der Bäume zu ihrer Linken pickten zwei Aaskrähen an etwas Rotem und Nassem im Unterholz. Einer der Vögel blickte auf und krähte warnend, als sie vorbeikamen.
Der Weg schlängelte sich unter den Bäumen hindurch und endete am Nordufer der Vézère. Der Fluss war breit und langsam in diesem Abschnitt, olivfarben und übersät mit toten Blättern, die der Wind von den Bäumen geweht hatte. Ein Mückenschwarm schwebte über dem Wasser und bot sich den Vögeln als Nahrung an, die sich von den Bäumen herunter auf ihre Beute stürzten.
Stromaufwärts verschwand der Fluss hinter einer Biegung. Stromabwärts verlief er für eine Weile geradeaus, bevor er ebenfalls eine Biegung beschrieb. Das gegenüberliegende Ufer war unbewohnt und dicht bewaldet.
Gabriel stand am Wasser, die Hände in den Jackentaschen. Er drehte sich um, als er sie hörte. Hannah kam es vor, als sähe er älter aus an diesem Morgen. Melancholisch irgendwie. «Ich wünschte, ich hätte eine Angel», sagte er.
«Im Haus gibt es eine. Nate kam ständig hierher, um unser Essen zu fangen. Forellen, Zander, alles Mögliche.»
Gabriel nickte, und dann fanden seine Blicke Leah. Seine Miene hellte sich auf. «Kleine Lady! Hör mal, ich wette, ich kann erraten, was du gegessen hast!»
«Pflaumen.»
Gabriel schlug sich an den Kopf. «Wie soll ich raten, wenn du mir die Antwort vorsagst, eh? Was soll denn das für ein Spiel sein?»
Leah lächelte beinahe. «Ein Spiel, das ich gewonnen habe.»
«Oh, tatsächlich? Wahrscheinlich, ja.» Er lachte. «Magst du den Fluss, kleine Lady? Siehst du den Stamm, halb untergetaucht, auf der anderen Seite? Vor einer Minute habe ich einen Eisvogel dort sitzen sehen. Vielleicht kommt er zurück, wenn du lange genug wartest. Ein wunderschöner Vogel, ehrlich. Und selten. Ein richtiges Ereignis, so einen Vogel zu sehen.»
Leahs Blick wanderte hin und her zwischen Gabriel und der Stelle, auf die er deutete, als versuchte sie zu entscheiden, ob er sie auf den Arm nahm. Offensichtlich entschied sie zu seinen Gunsten, denn sie näherte sich dem Ufer und ging in die Hocke. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und starrte aufmerksam auf den Stamm.
Hannah trat zu Gabriel. «Sie haben geschrieben, dass Ihre Leute herkommen.»
«Sie möchten Sie kennenlernen.»
«Warum?»
«Mehrere Gründe. Nicht zuletzt wegen dem, was einer der unseren Ihnen an Leid zugefügt hat.»
«Ich nehme an, Jakab zu finden steht nicht sehr hoch auf ihrer Prioritätenliste.»
«Ich hatte gehofft, Sie würden uns als mitfühlendere Wesen betrachten, Hannah.»
«Tatsächlich? In meiner Lage?»
Er senkte den Kopf. «Nein. Vermutlich nicht.»
Hätte er stattdessen versucht zu widersprechen oder sich sogar empört, hätte er ihren Zorn auf sich gezogen, ohne Zweifel. Stattdessen raubte seine Reaktion ihr das Gleichgewicht, und sie verspürte so etwas wie Gewissensbisse.
«Wir mögen unsere eigenen Gründe haben, warum wir Jakab dingfest machen wollen», fuhr er fort. «Aber das schließt nicht aus, dass wir zutiefst bestürzt sind über das Leid, das er über Sie und Ihre Familie gebracht hat.»
«Und was sind das für Gründe, Gabriel?»
«Das werden Sie schon sehr bald erfahren», antwortete er. «Aus dem Mund von jemandem, der das alles viel besser erklären kann als ich.» Gabriel hob den Kopf und sah flussaufwärts, wo der Fluss hinter einer Biegung im Wald verschwand.
«Auf wen genau warten Sie?»
Er lächelte abwesend, den Blick auf das andere Ufer
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