Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
Vom Netzwerk:
entfernte.
    Die Frau nahm Hannah beim Arm und lenkte ihre Schritte auf den Pfad zum Haus. «Gabriel hat mir berichtet, was passiert ist. Ich möchte, dass du weißt, wie leid mir das alles tut. Keine Frau deines Alters sollte ihren Gemahl verlieren. Überhaupt sollte keine Frau, egal, welchen Alters, jemals ihren Gemahl verlieren, schon gar nicht wegen eines anderen.»
    Hannah befürchtete, die Fassung zu verlieren, wenn sie die Worte der Frau an sich heranließ. Sie war sich ihrer Tochter bewusst und ihres Schwures, vor dem kleinen Mädchen Stärke zu zeigen, und so lenkte sie die Unterhaltung in eine neue Richtung. «Sie sind also die
Örökös Főnök

    Die Frau lächelte. «So ein uralter Titel.»
    «Ich dachte, die Position würde immer von einem Mann besetzt?»
    «Manchmal wünschte ich, das wäre so.»
    «Sie wollten nicht
Főnök
sein?»
    «Ich wollte nicht die letzte
Főnök
sein», antwortete die Frau, als sie aus dem Wald kamen, der an den Obsthain grenzte. Sie erreichten eine Bank, deren Bohlen von der Sonne vergangener Sommer ausgebleicht und verzogen waren. Die Frau sah hinauf zum Haus, und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft wirkte sie verunsichert. «Ist er … ist er im Haus?», fragte sie, an Gabriel gewandt.
    «Er ist Vorräte besorgen. Er müsste bald wieder zurück sein.»
    Sie schien Gabriels Antwort für einen Moment abzuwägen, dann drehte sie sich um. «Ich denke, Hannah und ich müssen uns ein wenig unterhalten», sagte sie. «Wärst du so nett, Gabriel, uns Tee zu bringen?»
    Hannah wurde bewusst, dass sie sich insgeheim über die leicht herablassende Art amüsierte, mit der die
Főnök
Gabriel herumkommandierte. Sie begegnete Gabriels Blick, und als er hilflos die Schultern zuckte, musste sie grinsen. Als er ihr Lächeln erwiderte, bemerkte Hannah, wie ein besorgter Ausdruck über das Gesicht der
Főnök
huschte.
    «Vielleicht könntest du selbst einen kleinen Helfer gebrauchen», schlug die Frau vor.
    «Ja, Mutter», antwortete er und verneigte sich tief. Dann wandte er sich an Leah. «Komm, kleine Lady. Ich zeige dir, wie die Iren Tee zubereiten.»
    Hannah sah den beiden hinterher, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die
Főnök
. «Gabriel ist Ihr Sohn?»
    «Dieser Junge ist eine ganze Reihe von Dingen, nicht alle davon nützlich und einige ausgesprochen ermüdend», antwortete die Frau. «Aber ja, ich bin stolz darauf, ihn meinen Sohn nennen zu dürfen. Komm, setzen wir uns.»
    Hannah ließ sich neben ihr auf der Bank nieder. Sie lauschten dem Ruf eines Spechts irgendwo hinter ihnen im Wald. Für eine Weile sagte keine der beiden Frauen etwas, doch das Schweigen war nicht unangenehm. Schließlich ergriff Hannah die Initiative. «Sie haben eben etwas gesagt. Darüber,
Főnök
zu sein.»
    «Du meinst, die letzte zu sein?»
    «Was genau haben Sie damit gemeint?»
    In den Augenwinkeln der Frau erschienen kleine Fältchen. «Es ist eine schwierige Sache, einem Volk Führung anzubieten, das die Kontrolle über seine Zukunft verloren hat. Dennoch muss ich es tun. Und wenn ich mich umsehe und die Eleganz und Anmut unserer letzten Generation betrachte und die Würde, die sie an den Tag legt, dann erfüllt mich das mit Stolz, während es mir zugleich das Herz zerreißt.» Ihre Brust hob und senkte sich, und sie richtete ihre lavendelfarbenen Augen auf Hannah. «Wir sterben, verstehst du? Unser Volk stirbt.»
    «Es stirbt?» Hannah runzelte die Stirn. «Wie kann das sein?»
    «Was weißt du über unsere Geschichte, Hannah Wilde?»
    «Mehr, als Sie vielleicht glauben. Andererseits nicht annähernd so viel, wie ich gerne wüsste.»
    «Dann hast du vermutlich auch von der …», sie schnitt eine Grimasse, als sie das Wort aussprach, «… der
Keulung
der
hosszú életek
gehört.»
    «Ein wenig.»
    Die Augen der
Főnök
blickten entrückt, als sie anfing zu sprechen.
    «Im neunzehnten Jahrhundert hatten sie angefangen, sich über die Welt zu verteilen, doch der größte Teil der
hosszú életek
war in Ungarn geblieben, und der größte Teil der ungarischen
hosszú életek
hatte in Budapest gelebt. Jahrhundertelang hatten sie praktisch unerkannt mitten unter der normalen Bevölkerung gelebt. Doch je voller Städte und Gemeinden wurden, je genauer die Aufzeichnungen über Geburten und Todesfälle geführt wurden, desto schwieriger wurde es für sie, ihre Geheimnisse zu bewahren. Der Adel hatte immer von ihrer Existenz gewusst und vielleicht gerade wegen ihrer dynastischen Natur über

Weitere Kostenlose Bücher