Der Bann (German Edition)
mache dir keinen Vorwurf, weil du verwirrt bist.»
«Du hast Nate angegriffen! Was ist daran unwahr?»
«Er hat auf mich
geschossen
! Was hätte ich denn tun sollen? Dastehen und abwarten, dass er mir eine zweite Kugel in den Leib jagt? Komm schon, Hannah. Ich habe mich selbst geschützt, das ist alles. Ich hatte nie vor, ihn zu töten. Ist alles in Ordnung mit ihm? Hat er überlebt?»
«Gib mir meinen Vater!»
«Können wir reden? Uns treffen?»
«Gib mir meinen Vater. Lass mich mit ihm reden, ungehindert. Erfüll mir diesen Wunsch, und dann sehen wir weiter. Beweise mir, dass ich dir vertrauen kann.»
«Mehr kann ich nicht verlangen. Hier ist dein Vater.»
Charles war wieder dran. «Hannah, ich habe dich gewarnt! Du darfst dich nicht darauf einlassen!»
«Dad, ich weiß, was ich tue.» Ihre Stimme bebte. Sie kämpfte darum, ihre Emotionen im Zaum zu halten. «Erinnerst du dich an das Weihnachtsfest, als du mir das Puppenhaus gebaut hast?»
«Ich werde es nie vergessen.»
«Erinnerst du dich, was geschehen ist?»
«Die Farbe war nicht rechtzeitig getrocknet, und wir haben dein Kleid, den Teppich, meine Hosen und die Vase deiner Mutter im Flur ruiniert.»
«Weißt du noch, wie wir gelacht haben?» Sie hörte sein leises Seufzen. Er klang schon jetzt unendlich weit weg. Unerreichbar.
Sie kämpfte darum, einen klaren Kopf zu behalten, trotz ihrer Trauer. «Dad, erinnerst du dich, was ich zu dir gesagt habe?»
«Ja.»
«Dass du der beste Vater auf der Welt wärst und wie sehr ich dich dafür liebte, dass du all die Zeit investiert hattest, um etwas ganz allein für mich zu bauen?»
«Ich erinnere mich.»
Jetzt, nachdem sie akzeptiert hatte, dass dies ihre allerletzte Unterhaltung sein würde, wollte sie eine finale Erinnerung mit ihm teilen. Es war das einzige Geschenk, das sie ihm machen konnte – der Schnappschuss eines perfekten Augenblicks, den sie miteinander verbracht hatten.
«Ich habe es damals so gemeint, und ich meine es heute so», sagte sie zu ihm. «Dad, ich liebe dich so sehr!»
«Ich liebe dich auch, Darling. Es tut mir so leid.»
«Nein, Dad, nicht. Sag nicht, dass es dir leidtut. Sag das niemals! Wag es nicht, dich zu entschuldigen. Was du getan hast, hat uns gerettet, uns alle. Wir sind überhaupt nur hier, weil du da warst. Ich liebe dich. Dafür und für alles andere.»
«Zeit, Lebewohl zu sagen, Liebling.»
«Ich weiß.» Sie schluchzte auf. «Oh, Dad!»
«Sag es, Hannah.»
«Ich liebe dich. Leb wohl, Dad.»
Hannah schleuderte das Handy durch die Küche und brach weinend in Nates Armen zusammen.
Kapitel 12
Keszthely, Ungarn
1874
D ie Sonne über den Hügeln hinter Keszthely verwandelte sich in flüssiges Feuer, als Jakab sein Hotelzimmer verließ und zum Ufer des Plattensees hinunterging, um sich mit Erna Novák zu treffen. Es war neun Uhr an einem Hochsommerabend, und der ganze Tag war heiß und feucht gewesen. Jetzt hatte sich eine Brise erhoben, die an Jakabs schweißfeuchter Kleidung zupfte und seine Stirn trocknete.
Nach einem kurzen Spaziergang durch die Straßen von Keszthely erreichte er das Seeufer und blickte hinaus aufs Wasser. Die Größe des Sees beeindruckte ihn auch nach acht Wochen noch. Im Südosten war im Dunst schwach das andere Ufer zu erkennen, und im Nordosten erstreckte sich der See bis zum Horizont.
Er hatte den größten Teil des Tages wegen der Hitze in seinem Hotelzimmer verbracht, dankbar für den Lufthauch, der vom See durch das Fenster hereinwehte und die Vorhänge blähte. Von seinem Balkon aus hatte der See in der Sonne so türkisfarben geglänzt, dass es Jakab den Atem verschlagen hatte. Jetzt, als die Sonne die Wolken blutig rot färbte und dem Horizont entgegensank, verlor das Wasser seine blaue Farbe und verwandelte sich in eine bodenlose Schale aus Quecksilber.
Jakab spürte seine Sinne vor Erwartung brodeln, während er die Ankunft des Mädchens herbeisehnte. Das Licht nahm rasch ab, und das Singen der Grillen wurde so laut, dass die Luft erfüllt war von ihrem Gezirpe. Er bildete sich ein, den Saft der Tannenbäume riechen zu können, die im Westen auf den Hügeln wuchsen. Ihr Duft vermischte sich mit dem mineralischen Geruch des Wassers, dem Zitrusaroma seines Parfüms und der darunterliegenden sauren Herbheit seines Schweißes.
Konnte es tatsächlich bereits zwei Monate her sein, dass er in Keszthely angekommen war? Viel vom Liebreiz der Stadt kam zweifellos durch das Mädchen. Doch selbst ohne seinen Einfluss war er
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