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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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Taverne ihres Vaters befand sich in einer Straße mit vielen Geschäften, flankiert von einer Apotheke und einem Lebensmittelladen. Als Erna sich dem Eingang näherte, blieb Jakab zurück und beobachtete sie aus einer Seitengasse.
    Vor der Taverne saßen Gruppen von Männern an wackligen Tischen und tranken und rauchten. Jakab hörte Lachen, das Klimpern von Gläsern, das Summen von Unterhaltungen. Er spürte einen Anfall von Ärger angesichts der Blicke, die Erna auf sich zog, als sie an den Tischen vorbeiging und die Taverne betrat, doch er verharrte reglos. Jetzt war nicht die Zeit, um sich von Gefühlen ablenken zu lassen.
    Sie waren da. Er konnte sie spüren.
    Ob es ein neuerwachter siebter Sinn war, der ihn warnte, vermochte er nicht zu sagen. Keine wie auch immer geartete Verkleidung konnte ihn für seine Artgenossen unsichtbar machen, doch sie mussten ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, um sicher zu sein, dass er der war, den sie suchten. Dieses Gefühl hier war etwas anderes, ein unbeschreiblicher
Zug
in Richtung des Gebäudes, ein vages Jucken hinter den Augen. Er schüttelte benommen und verwirrt den Kopf, um die Symptome zu vertreiben.
    Die Tür der Taverne öffnete sich, und ein Mann kam heraus. Die große Gestalt war eingerahmt vom Kerzenlicht hinter ihm. Jakab erschauerte, als der Mann sich eine Zigarre zwischen die Lippen schob, ein Streichholz anriss und sein Gesicht für einen kurzen Moment von der aufflackernden Flamme beleuchtet wurde: ein massiger Kiefer, dichte, wirre Augenbrauen, dunkle, pomadig glänzende Locken, eine Narbe, die sich vom linken Mundwinkel über die Wange zog. Jakab hatte den Mann noch nie im Leben gesehen, doch dieser neue, fremdartige Sinn schrie ihm entgegen, dass er einen seiner Verfolger gefunden hatte. Der Fremde zündete seine Zigarre an und blies eine Rauchwolke aus. Er lümmelte sich neben dem Eingang der Taverne und starrte hinaus in die Nacht.
    Jakab blieb in der Seitengasse, reglos und tief geduckt in die Schatten, doch er spürte trotzdem die suchenden Augen des Fremden.
    Angst ergriff von ihm Besitz. Die Beziehungen zwischen den
hosszú életek
und den herrschenden Familien in Budapest waren stets brüchig gewesen, und er wusste, dass seine Taten im vergangenen Jahr die Beziehungen weiter verschlechtert hatten. Der
tanács
musste seine Kritiker beschwichtigen, indem er an Jakab ein Exempel statuierte. Wenn Jakab gefasst wurde, war sein Leben verwirkt.
    Aus einer Lücke zwischen zwei Wohnhäusern tauchte eine weitere Gestalt auf. Sie näherte sich dem ersten Mann und schien sich mit ihm zu beratschlagen. Die beiden redeten einige Minuten. Jakab schob sich näher heran. Unvermittelt versteifte sich der Neuankömmling und drehte sich zur Gasse um, und für einen winzigen Moment schien das Licht aus den Fenstern der Taverne auf sein Gesicht.
    Jani.
    Jakab spürte, wie sein Puls schneller ging. Das Blut rauschte durch seine Adern. Sein Magen krampfte sich zusammen. Sein Kopf pochte.
    Natürlich.
    Sie hatten seinen Bruder hinter ihm hergeschickt. Die Feststellung empörte ihn, doch es war ein offensichtlicher Zug, wenn man es genau bedachte. Seine
Hosszú-életek
-Genossen konnten ihn zwar aus der Nähe identifizieren, doch es war eine weit größere Herausforderung, ihn auf längere Distanz zu verfolgen und aufzuspüren.
    Ein Verwandter – ein Bruder –, das war eine ganz andere Geschichte. Jani hatte das
vérérzet
, die Blutsbande. Sie ermöglichte ihm, den Aufenthaltsort seines Bruders mit der gleichen Intuition aufzuspüren wie ein Wünschelrutengänger das Wasser.
    Bis zu diesem Augenblick hatte Jakab geglaubt, er wäre selbst nicht mit diesem Talent ausgestattet – ein weiteres Zeichen seiner Andersartigkeit, seiner Missbildung. Doch das hier erklärte das nagende Gefühl,
beobachtet
zu werden, das er schon früher gehabt hatte. Seine eigene Fähigkeit war im Vergleich zu Janis offensichtlich nur schwach ausgeprägt. Immerhin war es Jani gelungen, ihm über viele hundert Meilen zu folgen.
    Mit trockenem Mund beobachtete Jakab, wie sein Bruder und der narbengesichtige Fremde in die Taverne zurückkehrten. Was hatte er getan, das einen derartigen Verrat rechtfertigte? Was hatte der
tanács
seinem Bruder versprochen als Gegenleistung dafür, dass er Jakab nach Budapest zurückbrachte?
    Jakab hatte ursprünglich geplant, seine Verfolger noch in dieser Nacht zu töten. Doch wie konnte er Jani das Leben nehmen – und, genauso entsetzlich, wie konnte er jemals

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