Der Bann (German Edition)
volkstümlichen Erzählungen. Hannah war ihm dankbar dafür. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft nach einem langen Tag der Pflege ihres Mannes, des Redens und Spielens mit ihrer Tochter und des Pläneschmiedens. Sie hatte am Nachmittag ein paar Anrufe getätigt als Teil der Vorbereitungen für ihre Flucht in das Versteck in Südfrankreich. Sie wollte so viel Distanz und so viele Hindernisse wie möglich zwischen Jakab und ihre Familie bringen. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag ertappte sich Hannah dabei, wie sie an ihren Vater dachte und sich fragte, wo er war, ob er noch lebte und ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Es war grausam – nicht zu wissen, was mit ihm war –, doch sie zwang sich, diese Gedanken zu verdrängen. Sie durfte nicht das eigentliche Ziel aus den Augen verlieren, ihre Verantwortung für die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Tochter und ihres Mannes.
Nach dem Essen durfte Leah eine Schale mit Resten füllen, die sie Moses hinstellte. Dann brachte Hannah das kleine Mädchen nach oben, ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen und schrubbte es, bis seine Haut rosig leuchtete. Danach brachte sie Leah im großen Schlafzimmer zu Bett und deckte sie zu.
«Sebastien ist lustig, nicht wahr, Mami?»
«Ja, Darling. Er ist ein sehr lieber Mann.»
«Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich, er wäre der Böse Mann.»
Hannah streichelte ihr über das Haar. Die stille Angst in der Stimme ihrer Tochter erfüllte sie mit Sorge. Was war das für eine Kindheit, die sie ihrer Tochter zumutete, in der die Begegnung mit einem Fremden so viel Angst auslöste? Wenn der Erfolg von Eltern daran gemessen wurde, wie viel Selbstvertrauen sie ihren Kindern mit auf den Weg gaben, dann hatte sie total versagt. Andererseits – welche Wahl hatte sie denn gehabt? Leah im Unwissen darüber zu lassen, welche Gefahr ihr drohte? Ihr die glückliche Kindheit zu schenken, nach der sie sich selbst gesehnt hatte, und das Mädchen zugleich völlig wehrlos zurückzulassen, sollte etwas passieren? Was war schlimmer?
«Er ist nicht der Böse Mann, Leah», sagte sie. «Sein Hund heißt Moses.»
«Daddy sieht besser aus.»
«Ja, du hast recht. Er kommt wieder ganz in Ordnung.»
«Bist du in Ordnung?»
Die Frage erwischte sie auf dem falschen Fuß und ließ ihre Sicht verschwimmen. Sie biss die Zähne zusammen, zwang sich zu einem Lächeln und zog ihre Tochter in die Arme. Sie vergrub das Gesicht in Leahs Haar, wollte sich in ihrem sauberen, jugendlichen Duft verlieren, während sie sich zugleich danach sehnte, frei zu sein von der Verantwortung und den Entscheidungen, die sie zu treffen hatte.
Nachdem sie Leah auf diese Weise einige Sekunden fest gehalten hatte, fasste sie sich wieder und löste sich von ihr.
«Es wird alles gut, Mami.»
Scham schlug über ihr zusammen, Verlegenheit darüber, dass sie hier saß und sich von einem neun Jahre alten Mädchen trösten ließ – dass sie noch zu Leahs Angst beitrug, während sie versuchte, sie von ihr abzulenken. «Ja, natürlich», antwortete sie leise, während sie sich sammelte. «Allerdings nicht für dich, wenn du nicht bald machst, dass du ins Bett kommst. Los, Sebastien hat gesagt, dass er dir morgen ein paar Tricks zeigen will, wenn du dich heute Nacht ordentlich ausschläfst. Und jetzt gib mir einen Kuss und leg dich hin. Ich bin gleich wieder zurück.»
Wieder unten, stellte sie fest, dass Sebastien inzwischen das Geschirr abgewaschen und es sich in einem Sessel gegenüber Nate bequem gemacht hatte. In der Hand hielt er ein Glas Wein.
Nate blickte auf. «Hat sie sich beruhigt?»
«Nach einer Weile, ja. Sie hat eine Heidenangst, aber sie will es nicht zeigen. Ich hasse mich für das, was ich ihr zugemutet habe. Für diese ganze elende Geschichte.»
«Es ist nicht deine Schuld, Hannah.»
Sie setzte sich neben dem Sofa auf den Boden. «Es ist auch nicht Leahs Schuld, Nate. Wir … wir müssen diese Sache beenden, ein für alle Mal.»
«Das werden wir auch.» Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie. Als er ihre Finger drückte, stellte sie erleichtert fest, dass seine Kräfte zurückzukehren schienen.
Sie beugte sich vor und legte ihre Stirn an seine. «Oh, Nate, wirklich?»
«Du hast alles getan, was in deiner Macht steht, Han. Ich weiß, du hast das Gefühl, dass es zu viel ist, dass du machtlos bist, aber ich habe noch nie eine Person gesehen, die stärker gewesen wäre als du. Du hast mich gerettet. Herrgott, Han, du hast
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