Der Barbar
in den Gedanken gefangen zu sein. Die Stirn war gekraust, sie schaute weiterhin zu Boden und zeigte kein Interesse für ihre Umwelt.
Ich stand auf.
Alles tat ich sehr leise und auch irgendwie abwartend. Ich ging nicht schnell zum Fenster, sondern mit kleinen Schritten, die kaum zu hören waren.
Vor der Scheibe blieb ich stehen. Zu sehen war nichts. Man konnte eine Tür öffnen und auf den hinter dem Fenster liegenden Balkon gehen. Ich überlegte, ob es sinnvoll war, dies zu tun, und entschied mich schließlich dafür, nach draußen zu gehen.
Bevor ich die Tür öffnete, warf ich einen Blick auf Purdy Prentiss. Sie hatte sich nicht aus dem Sessel wegbewegt und saß noch immer so dort wie zu Beginn.
Ich zog die Tür auf.
Kühle wehte mir entgegen. Ich hörte den Verkehrslärm wie ein leises Rauschen. Nach dem nächsten Schritt war das Geräusch nicht mehr zu hören, und so schaute ich mir den Balkon näher an. Es konnte sein, dass sich hier jemand versteckt hielt, denn groß genug war er.
Nein, ich sah nichts. Auch nicht hinter den hochkant gestellten Stühlen und dem Tisch. Die Möbel waren mit einer Plane geschützt und würden erst im Frühling wieder befreit werden.
Mich umgab die Normalität, die ich jetzt allerdings lieber anders gehabt hätte. Ich wollte, dass sich der Barbar zeigte. Wenigstens kurz. Damit ich sehen konnte, mit wem ich es zu tun hatte.
Nichts passierte. Der Wind blieb. Ich drehte mich wieder um und spürte ihn jetzt im Nacken.
Das war plötzlich uninteressant geworden, denn was sich im Zimmer abspielte, nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
Purdy Prentiss saß nicht mehr auf ihrem Platz. Sie war aufgestanden und bewegte sich durch das Zimmer. Nein, das stimmte auch nicht so richtig. Sie stand vor dem Sessel und drehte sich im Kreis. Sehr langsam und mit tappenden Bewegungen. Den Kopf hielt sie dabei in den Nacken gelegt, damit sie in die Höhe schauen konnte.
Zu sehen gab es dort nichts, wie ich mit einem Blick durch die Scheibe erkannte. Das Zimmer war und blieb leer. Darüber war ich froh. Ich war mir jetzt sicher, dass auch Purdy etwas gehört haben musste, sonst hätte sie nicht so reagiert.
Durch die noch immer offen stehende Tür betrat ich wieder das Zimmer. Purdy hatte die Bewegung gesehen, und sie drehte sich nicht mehr. Sie stoppte aus der Bewegung heraus. Dabei blieb sie so stehen, dass sie mir ins Gesicht schaute.
Ich schloss die Tür.
Purdy wischte durch ihr Haar. Dann erst konnte sie sprechen. »Hast du... hast du es auch gehört?«
»Ja.«
Sie streckte ihre Arme vor. »Das war es, John. Das war das Geräusch der verdammten Säge. Ich sage dir, dass er hier ist. Hier in der Nähe. Du musst es mir glauben.«
An ihren Worten zweifelte ich nicht, auch wenn ich das singende Geräusch nicht mehr vernahm, als ich das Zimmer wieder betrat. Es war still geworden, abgesehen von den Atemgeräuschen, die Purdy und ich produzierten.
Beim Näherkommen sah ich, dass Purdy Angst hatte. Es war völlig natürlich, denn auch ich war von einem unheimlichen Gefühl übermannt worden. Ich fühlte mich wie in einer großen Falle, aus der es so leicht keinen Ausweg gab.
Unser unsichtbarer Feind verhielt sich sehr geschickt. Er blieb nach wie vor im Unsichtbaren verborgen. Er meldete sich auch mehr durch das Singen der Kettensäge, aber das trug nicht zu unserer Beruhigung bei.
Ich kannte mich aus mit Zeitreisen. Ich wusste, wie es war, wenn plötzlich zwei verschiedene Zeiten überlappten und so etwas wie Schnittmengen bildeten. Ich wartete irgendwie darauf, dass dies passieren würde, damit sich ein Tor öffnete, das den Blick in die Vergangenheit freigab.
Nein, hier tat sich nichts. Alles blieb, wie es war. Und trotzdem wich die Bedrohung nicht, die wie eine große Last auf uns lag. Mir wehten die Atemzüge der Staatsanwältin entgegen. Jeder fiel ihr schwer. Sie stöhnte dabei leise auf. Ich sah die Schweißperlen auf ihrem Gesicht und nahm sie in die Arme.
»Du hast es doch auch gehört – oder?«
Meine rechte Hand strich über ihren Rücken. »Ja, Purdy. Deshalb war ich auch draußen, um nachzusehen. Aber ich habe nichts gefunden. Tut mir Leid. Er spielt mit uns Katz und Maus. Dieser Barbar ist uns immer einen Schritt voraus.«
»Hast du eine Lösung?«
»Im Moment nicht.«
»Wäre es sinnvoll, die Wohnung zu verlassen?«
Den Zweifel in ihrer Stimme hatte ich sehr wohl herausgehört, und den bestätigte ich durch meine Antwort. »Nein, das wäre es nicht. Er
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