Der Bastard von Tolosa / Roman
Verteidigungsring. Auf so eine Verzweiflungstat schienen sie nur zu warten. Mit meinen zehn Speerkämpfern und der Handvoll Wachleuten wäre es Selbstmord gewesen.
Immer wieder flogen meine Gedanken zu Ramon. Welch wirre Empfindungen rasten durch sein dumpfes Hirn? Was musste in ihm vorgehen, seine Marta vor seinen Augen geschändet und gequält zu sehen? Ach, hätte ich doch nur nicht mit ihm geredet, fuhr es mir durch den Kopf! An jenem Nachmittag unten am Fluss hatte ich begonnen, ihn zu lieben. Seine Hilflosigkeit und sein linkisches Lächeln hatten ihn mir teuer gemacht. Die Vorstellung an die Schrecken, die er jetzt durchleben musste, zerriss mir das Herz. Es war, als ob mich meine Alpträume eingeholt hätten.
Während sich alle um mich herum verkrochen und die Ohren verstopften, um nicht sehen und hören zu müssen, betete ich unentwegt zur Heiligen Jungfrau.
»Maria virgo pia consolatrix, sancta Maria, Mater Dei, benedicta tu in mulieribus, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora nostrae.«
Berta stand allein auf der Zinne, eine dunkle Gestalt vor dem Hintergrund der Feuer. Während die Brände tobten, das Lachen der Soldaten unsere Ohren beleidigte, die Schreie der Gequälten sich in unsere Seelen bohrten, stand sie trockenen Auges und mit steinerner Miene unbeweglich da und nahm alles in sich auf, als wolle sie es nie mehr vergessen.
Ich trat an ihre Seite.
»Mein Gott! Was habe ich nur getan?«
»Nichts hätte dies verhindern können«, sagte ich. Doch sie hörte mich nicht. Es war, als wolle sie allein die Verantwortung auf sich nehmen.
»Deus, perdona me!«,
flüsterte sie.
Ich legte sanft meinen Arm um ihre Schulter, aber ungeduldig wehrte sie mich ab, und ihr Mund war hart, als sie sprach.
»Bring mir seinen Kopf!« Ihre Augen funkelten im Licht der Feuer. »Du sollst ihn umbringen, hörst du? Versprich es!«
»Ich verspreche es!«
»Langsam und qualvoll, wie er es verdient hat.«
Auch ihre Barmherzigkeit hatte also Grenzen.
Ich nickte. »So soll es geschehen.«
Der Schlüssel
Sanctus Iohannes, Patron der Weber, Sattler, Schmiede, Hirten und Bauern, der Lämmer, Schafe und Haustiere und der Weinstöcke; beschützt vor Kopfschmerz, Schwindel, Krämpfen, Furcht und Hagel
Sexta Feria, 24. Tag des Monats Juni
A m Festtag des
Sant Joan
hat der Teufel keine Macht.
So heißt es im Volk. Ich schüttelte angewidert den Kopf. Der gute Heilige hatte den Teufel nicht davon abhalten können, uns Ricard de Peyregoux zu schicken. Es zeigte nur wieder, wie dumm solche Sprüche sind.
Wie kann man sich nach einer solchen Nacht in die Augen sehen? Niemand brachte das fertig. Nicht im harschen Licht des Tages. Nach den gellen Schreien fühlten wir uns leer und zittrig mit dumpfen Schuldgefühlen in der Brust, denn hier oben, in der Sicherheit der Burg, hatten wir nicht mehr getan, als uns die Ohren zuzuhalten. Bis ins Mark hatten uns die Qualen der Opfer getroffen, und ihre Schreie hallten noch lange in unseren bebenden Herzen nach, selbst als sie längst verstummt waren.
Die Feuer brannten langsam aus. Es blieben nur ein Glühen hier und da und der Gestank von verkohltem Holz, der sich bleiern auf die Brust legte. Von den geschändeten Frauen war zuletzt nur noch ein gelegentliches Wimmern zu uns heraufgedrungen, wie das Flüstern, das ein sterbender Wind noch im Laub der Bäume hören lässt. Das war noch schwerer zu ertragen gewesen als die Schreie.
Am Morgen kümmerten sich die Mütter leise um ihre Kinder, die Wachen gingen ihre Runden, die Mägde kochten das Essen. Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen, aber kaum jemand sprach ein Wort. Man ging sich aus dem Weg und sah sich nicht an. Wer nichts zu tun hatte, schnitzte in einer stillen Ecke ziellos an einem Stück Holz oder legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Nicht einmal Tränen konnten wir vergießen. Die Ohnmacht schlug jedem gallig bitter auf den Magen und schürte unseren Hass.
Die beiden schwerverwundeten
pezos
waren verendet. Brun ließ ihre Leichen ohne viel Federlesen über die Mauer werfen.
Dann entdeckten wir, dass Gustau verschwunden war. In der Nacht hatte er sich heimlich davongemacht, niemand hatte ihn gesehen, aber am Morgen fanden wir ein Seil, mit dem er über die Mauer geklettert war. Ich konnte ihn verstehen. Er wollte etwas unternehmen, auch wenn es wenig Aussicht auf Erfolg haben und sein Leben kosten würde. Gern hätte ich es ihm nachgemacht, aber ich war für die Gemeinschaft verantwortlich,
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