Der Bauch von Paris - 3
wollte.
Als sie in Gedanken verloren am Fenster stand und sich sagte, daß sie sich von Abbé Roustan, einem klugen Mann, Rat holen müsse, bemerkte sie unten auf dem Pflaster vor den Markthallen eine Menschenansammlung um eine Bahre. Die Nacht brach herein, aber sie erkannte einwandfrei Cadine, die inmitten einer Gruppe weinte, während Florent und Claude, die Füße weiß von Staub, lebhaft miteinander an der Bordschwelle sprachen. Von deren Rückkehr überrascht, beeilte sie sich hinunterzugehen. Kaum war sie hinter dem Ladentisch, als Fräulein Saget eintrat und sagte:
»Es ist dieser Galgenstrick, der Marjolin, den sie eben im Keller mit aufgespaltenem Kopf gefunden haben … Kommen Sie nicht mit, ihn sich ansehen, Madame Quenu?«
Lisa überquerte den Fahrdamm, um ihn zu sehen. Der junge Mann lag lang ausgestreckt da mit einer vom Blut steif und schmutzig gewordenen Strähne seiner blonden Haare, war sehr bleich und hatte die Augen geschlossen. In der Gruppe meinte man, es sei nichts weiter. Außerdem sei der Lümmel selber daran schuld, wenn er in den Kellern hundert Streiche mache. Man nahm an, er habe über eine der Schlachtbänke springen wollen, was eines seiner Lieblingsspiele war, und sei dabei mit der Stirn gegen den Stein gefallen.
Fräulein Saget zeigte auf die weinende Cadine und murmelte: »Sicher hat ihm diese Göre einen Stoß gegeben. Sie stecken immer in allen Ecken zusammen.«
Marjolin, der durch die Kühle auf der Straße wieder zu sich kam, machte große erstaunte Augen. Er musterte alle; dann, als er Lisas Gesicht begegnete, das sich über ihn neigte, lächelte er sanft, demütig, mit zärtlicher Ergebenheit. Er schien sich nicht mehr zu erinnern. Beruhigt meinte Lisa, er müsse sofort ins Spital geschafft werden; sie würde dann nach ihm sehen gehen und ihm Orangen und Bikuits bringen. Morjolins Kopf war zurückgesunken. Als die Bahre fortgetragen wurde, folgte ihr Cadine, ihren Korb um den Hals, ihre Veilchensträußchen in den Moosrasen gesteckt, auf die ihre heißen Tränen rannen, ohne daß sie im geringsten an die Blumen dachte, die sie so mit ihrem großen Kummer versengte. Als Lisa in die Fleischerei zurückkehrte, hörte sie, wie Claude, der Florent die Hand drückte, brummte:
»Ach, der verdammte Lümmel; er verdirbt mir den ganzen Tag … Wir haben trotzdem tüchtig unsern Spaß gehabt!«
Claude und Florent kehrten in der Tat erschöpft und beglückt zurück. Sie brachten einen guten Duft von freier Luft mit. An diesem Morgen hatte Frau François schon vor Tagesanbruch ihr Gemüse verkauft. Sie gingen alle drei ihren Wagen in der Rue Montorgueil aus dem »Compas d’Or« holen. Das war gleichsam ein Vorgeschmack vom Lande mitten in Paris. Hinter dem Restaurant Philippe, dessen vergoldetes Täfelwerk bis zum ersten Stock hinaufreichte, befand sich ein dunkler, von Leben erfüllter Wirtschaftshof, der schmierig war vom Geruch frischen Strohs und warmen Pferdemistes. Scharen von Hühnern wühlten mit dem Schnabel in der weichen Erde. Grün angestrichene Holzbauten, Treppen, Galerien, eingefallene Dächer lehnten sich an die alten Nachbarhäuser; und hinten wartete, ganz und gar angeschirrt, Balthasar unter einem roh gezimmerten Schuppen und fraß aus einem am Halfter angehängten Sack seinen Hafer. In kurzem Trab lief er die Rue Montorgueil hinunter und sah zufrieden aus, so schnell nach Nanterre zurückzukehren. Aber er fuhr nicht leer wieder ab. Die Gemüsebäuerin hatte mit der Gesellschaft, die mit der Reinigung der Markthallen beauftragt war, ein Abkommen; sie nahm zweimal in der Woche eine Wagenladung Blätter mit, die mit der Forke aus den Kehrichthaufen geholt wurden, die die Straße versperren. Das war ein vorzüglicher Dünger. In wenigen Minuten war der Wagen übervoll. Claude und Florent streckten sich aus auf dem dichten Bett von Grünzeug. Frau François ergriff die Zügel, und Balthasar setzte sich in seiner langsamen Gangart in Bewegung, den Kopf ein wenig gesenkt, weil er so viele Leute zu ziehen hatte.
Der Ausflug war seit langem geplant. Die Gemüsebäuerin lachte vergnügt; sie konnte die beiden Männer gut leiden und versprach ihnen eine Omelette mit Speck, wie man sie in diesem »lumpigen Paris« überhaupt nicht zu essen bekäme. Sie kosteten schon jetzt diesen Tag des Nichtstuns und Herumbummelns aus, dessen Sonne eben erst aufging. In der Ferne lag Nanterre als eine reine Freude, in die sie hineinfuhren.
»Sie liegen doch wenigstens gut?« fragte Frau
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