Der Bauch von Paris - 3
mindestens schon das zehnte Mal dort in der Ecke bei dem Aprikosenbaum.«
Florent mußte über diese Bemerkung lachen. Aber er wurde wieder ernst; er ging langsam im Gemüsegarten auf und ab, während Claude eine Skizze vom Pferdestall anfertigte und Frau François das Mittagessen zubereitete. Der Gemüsegarten bildete einen langen Geländestreifen, den in der Mitte ein enger Gang trennte. Er stieg ein wenig an, und ganz oben gewahrte man, wenn man den Kopf hob, die niedrigen Kasernen vom MontValérien. Lebende Hecken trennten ihn von anderen Stücken Land. Diese sehr hohen Weißdornmauern grenzten das Blickfeld mit einem grünen Vorhang ein, und zwar derart, daß man hätte meinen können, nur der MontValérien43 richte sich von dem ganzen umliegenden Land neugierig hoch, um Frau François ins Gehöft zu blicken. Tiefer Frieden ging von dieser Landschaft aus, die nicht zu sehen war. Innerhalb dieser vier Hecken hatte die Maisonne längs des Gemüsegartens gleichsam ein lauwarmes wonniges Vergehen, eine von Insektengesumm erfüllte Stille, die Schläfrigkeit glücklichen Gebärens. Bei gewissem Knistern, bei gewissen leichten Seufzern war es, als höre man das Gemüse keimen und wachsen. Die Beete mit Spinat und mit Sauerampfer, die Reihen Radieschen, Rüben, Möhren, die großen Kartoffel und Kohlstauden breiteten ihre regelmäßigen Tücher, ihr schwarzes Erdreich, aus, das durch die Helmbüsche der Blätter grün geworden war. Weiterhin ähnelten die Salatfurchen, die ausgerichteten und nach der Schnur gepflanzten Zwiebeln, Porree und Selleriestauden Zinnsoldaten bei der Parade, während Schoten und Bohnen anfingen, ihre dünnen Stengel in dem Wald von Pfählen zu winden, den sie im Juni in einen dichtbelaubten Busch verwandeln sollten. Kein Unkraut kroch umher. Man hätte den Gemüsegarten für zwei parallel ausgelegte Teppiche mit regelmäßigen grünen Mustern auf rötlichem Grund halten können, die an jedem Morgen sorgfältig abgebürstet werden. Thymianeinfassungen setzten graue Fransen an beide Seiten des Ganges.
Florent ging auf und ab im Duft des Thymians, den die Sonne erwärmte. Er war zutiefst glücklich über den Frieden und die Reinlichkeit dieser Erde. Seit fast einem Jahr kannte er nur vom Rütteln der Karren zerquetschtes, am Abend vorher ausgerissenes, noch blutendes Gemüse. Er freute sich, es hier, wo es daheim war, zu finden, ruhig im Humus und an all seinen Gliedern gesund. Die Kohlköpfe hatten ein breites, wohlgenährtes Gesicht, die Möhren waren vergnügt, und die Salatköpfe gingen im Gänsemarsch mit der Nachlässigkeit von Nichtstuern. Die Markthallen, die Florent am Morgen verlassen, erschienen ihm wie ein weites Beinhaus, eine Stätte des Todes, wo nur Kadaver von Wesen herumlagen, ein Leichenschauhaus voller Gestank und Verwesung. Er verlangsamte seine Schritte, ruhte aus in Frau François’ Gemüsegarten wie von langem Wandern in betäubendem Lärm und fauligen Gerüchen. Der Krach und die Übelkeit erregende Feuchtigkeit der Seefischhalle wichen von ihm; wie neugeboren fühlte er sich in der frischen Luft. Claude hatte recht, in den Markthallen war alles im Sterben. Die Erde war das Leben, die ewige Wiege, das Heil der Welt.
»Die Omelette ist fertig!« rief die Gemüsebäuerin.
Als sie alle drei in der Küche, deren Tür der Sonne offenstand, um den Tisch saßen, aßen sie so lustig, daß Frau François verwundert Florent anblickte und bei jedem Bissen wiederholte:
»Sie sind nicht mehr derselbe. Sie sind zehn Jahre jünger. Das ist dieses elende Paris, das Ihr Aussehen so verdüstert. Mir ist, als ob Sie jetzt einen Sonnenstrahl in Ihren Augen haben … Sehen Sie, die taugen nichts, die großen Städte; Sie sollten hierherziehen.«
Claude lachte und sagte, Paris sei prachtvoll. Er verteidigte es bis zu den Rinnsteinen, bewahrte jedoch dabei eine zärtliche Liebe für das Land. Am Nachmittag trafen sich Frau François und Florent allein am Ende des Gemüsegartens, in einer Ecke des mit ein paar Obstbäumen bepflanzten Geländes. Sie hatten sich auf den Erdboden gesetzt und führten ein ernstes Gespräch miteinander. Sie erteilte ihm aus tiefer Freundschaft heraus mütterliche und gleichzeitig liebevolle Ratschläge. Sie stellte ihm tausend Fragen über sein Leben, über das, was er später zu werden gedenke, und bot sich ihm ganz einfach an, falls er sie eines Tages für sein Glück benötige. Florent war tief gerührt. Noch niemals hatte eine Frau in solcher Weise zu ihm
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