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Der Bauch von Paris - 3

Der Bauch von Paris - 3

Titel: Der Bauch von Paris - 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sind die große Falle, in der sich die Durchschnittstugenden fangen lassen … Aber ich kenne Ihr schönes Gewissen. Wägen Sie jede Ihrer Handlungen ab, und wenn nichts in Ihnen dagegen spricht, schreiten Sie kühn vorwärts … Ehrbare Naturen besitzen die wunderbare Gnade, ihre Ehrbarkeit in alles zu legen, was sie berühren.« Und mit veränderter Stimme fuhr er fort: »Grüßen Sie Ihren Gatten schön von mir. Wenn ich vorbeikomme, werde ich bei Ihnen eintreten, um meine liebe kleine Pauline zu drücken … Auf Wiedersehen, liebe Dame, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« Er ging in die Sakristei zurück.
    Als sich Lisa entfernte, war sie neugierig, nachzusehen, ob Claire immer noch betete; aber Claire war zu ihren Karpfen und Aalen zurückgekehrt. Vor der Kapelle der Heiligen Jungfrau, wo es Nacht geworden, war nur ein Durcheinander von Stühlen, die unter der frommen Hitze der Frauen, die hier gekniet hatten, umgestürzt und umgelegt worden waren.
    Als die schöne Fleischersfrau wieder den Platz überquerte, erkannte die Normande, die auf ihr Herauskommen lauerte, sie in der Dämmerung an der Rundung ihrer Röcke.
    »Na ich danke!« rief sie. »Über eine Stunde ist sie geblieben. Wenn der die Pfaffen ihre Sünden ausnehmen, bilden die Chorknaben eine Kette, um die Eimer voll Unrat auf die Straße zu schmeißen.«
    Am nächsten Morgen ging Lisa stracks in Florents Stube hinauf. Sie ließ sich dort in aller Ruhe nieder, war sicher, nicht gestört zu werden, und übrigens entschlossen, zu lügen und zu sagen, falls Florent heraufkomme, sie sei gekommen, um sich von der Sauberkeit der Wäsche zu vergewissern. Sie hatte Florent unten mitten im Seefischmarkt sehr beschäftigt gesehen. Sie setzte sich vor den kleinen Tisch, nahm die Schublade heraus, legte sie sich auf die Knie, räumte sie mit großer Vorsicht aus und achtete sorgfältig darauf, die Papierpacken wieder in der gleichen Ordnung zurückzulegen. Sie fand zunächst die ersten Kapitel des Werkes über Cayenne, dann die Entwürfe, die Pläne aller Art, die Umwandlung der Abgaben in Umsatzsteuern, die Reform des Verwaltungssystems der Markthallen und andere. Diese fein beschriebenen Seiten, die zu lesen sie sich angelegen sein ließ, langweilten sie sehr; sie wollte schon die Schublade wieder einsetzen, überzeugt davon, daß Florent die Beweise für seine bösen Absichten woanders versteckt habe, und dachte bereits daran, die Wolle der Matratze zu durchwühlen, als sie in einem Briefumschlag ein Bild der schönen Normande entdeckte. Die Fotografie war schon ein wenig nachgedunkelt. Die Normande hatte sich aufrecht hingestellt, den rechten Arm auf einen Säulenstumpf gestützt; und sie hatte all ihren Schmuck angelegt und ein neues, sich bauschendes seidenes Kleid und lächelte unverschämt. Lisa vergaß ihren Schwager, ihre Befürchtungen und das, was zu tun sie gekommen war. Sie versank in die Betrachtungen, die eine Frau anstellt, die nach Herzenslust und ohne Angst, selbst gesehen zu werden, eine andere Frau in Augenschein nimmt. Niemals hatte sie die Muße gehabt, sich ihre Rivalin so aus der Nähe anzusehen. Sie musterte die Haare, die Nase, den Mund, hielt die Fotografie von sich ab und zog sie wieder heran. Dann las sie mit zusammengekniffenen Lippen auf der Rückseite in garstigen Buchstaben geschrieben: »Louise ihrem Freund Florent«. Das empörte sie, das war ein Geständnis. Lisa bekam Lust, dieses Bild an sich zu nehmen, es als eine Waffe gegen ihre Feindin zu behalten. Sie steckte es langsam wieder in den Umschlag zurück, weil sie dachte, das wäre etwas Schlechtes und sie würde das Bild übrigens jederzeit wiederfinden.
    Als sie nun von neuem in den losen Seiten blätterte und sie übereinanderschichtete, kam ihr der Gedanke, ganz hinten in der Schublade nachzusehen, wohin Florent Augustines Garn und Nadeln geschoben hatte, und dort entdeckte sie zwischen dem Gebetbuch und dem »Traumschlüssel« das, was sie suchte: außerordentlich kompromittierende Aufzeichnungen, die einfach in einer Hülle von grauem Papier verwahrt waren. Der Plan zu einem Aufstand, einem Sturz des Kaiserreichs mit Hilfe eines Gewaltstreichs, den eines Abends Logre bei Herrn Lebigre vorgebracht hatte, war langsam in Florents glühendem Geist herangereift. Bald sah er darin eine Aufgabe, eine Sendung. Das war der endlich gefundene Zweck seiner Flucht von Cayenne und seiner Rückkehr nach Paris, Da er glaubte, seine Magerkeit an dieser Stadt rächen zu müssen, die

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