Der Bauch von Paris - 3
da und sah ganz gelassen zu. Ihre Nerven waren keineswegs empfindlich. Sie fand, es sei nicht richtig, die Kronleuchter nicht anzuzünden, und mit Licht sei es fröhlicher. Es lag sogar etwas Unanständiges in diesem Schatten, eine Alkovenbeleuchtung und ein Alkovenhauch, die ihr wenig angebracht schienen. Die neben ihr in einem großen Leuchter brennenden Kerzen erhitzten ihr das Gesicht, während eine alte Frau mit einem dicken Messer das heruntergetropfte, zu bleichen Tränen erstarrte Wachs abkratzte. Und in diesem frommen Erschauern der Kapelle, in diesem stummen, wonnigen vor Liebe Vergehen vernahm sie sehr deutlich hinter den roten und violetten Heiligen der Kirchenfenster das Rollen der aus der Rue Montmartre kommenden Wagen. In der Ferne dröhnten mit anhaltender Stimme die Markthallen.
Als sie sich anschickte, die Kapelle zu verlassen, sah sie die Jüngere der Méhudins eintreten, Claire, die Süßwasserfischhändlerin. Sie zündete eine Kerze auf dem großen Leuchter an. Dann kniete sie hinter einem Pfeiler mit eingeknickten Knien auf dem Stein nieder, so bleich in ihren blonden, schlecht aufgesteckten Haaren, daß sie wie eine Tote aussah. Da sie sich dort verborgen glaubte, rang sie mit dem Tode, weinte heiße Tränen mit der Glut von Gebeten, unter denen sie sich beugte wie unter einem heftigen Sturm mit der ganzen Hingerissenheit eines sich hingebenden Weibes. Die schöne Fleischersfrau war sehr überrascht, denn die Méhudins waren keineswegs fromm. Vor allem Claire sprach über die Religion und die Priester gewöhnlich in einer Weise, daß einem die Haare zu Berge standen.
Was mag nur über sie gekommen sein? fragte sich Lisa, als sie wieder zur Kapelle der heiligen Agnes zurückkehrte. Die muß irgend jemand vergiftet haben, dieses liederliche Frauenzimmer.
Endlich kam der Abbé Roustan aus seinem Beichtstuhl. Er war ein stattlicher Mann in den Vierzigern mit einem lächelnden und guten Gesichtsausdruck. Als er Frau Quenu erkannte, drückte er ihr die Hand, redete sie mit »liebe Dame« an und führte sie in die Sakristei, wo er sein Chorhemd ablegte und ihr sagte, daß er sogleich ganz zu ihrer Verfügung stehe. Sie gingen beide zurück, er in der Soutane45 und barhäuptig, sie sich in ihrem bunten Wollschal spreizend, und sie spazierten längs der Seitenkapellen an der Rue du Jour auf und ab. Sie sprachen mit leiser Stimme. Die Sonne erstarb in den Kirchenfenstern; die Kirche wurde dunkel, und die Schritte der letzten Andächtigen streiften sanft über die Fliesen.
Währenddessen setzte Lisa Abbé Roustan ihre Gewissensbedenken auseinander. Von Religion war niemals zwischen ihnen die Rede. Sie kam nicht zur Beichte, sie fragte ihn einfach in schwierigen Fällen um Rat in seiner Eigenschaft als verschwiegener und kluger Mann, den sie, wie sie manchmal sagte, jenen Winkeladvokaten vorzog, die nach Zuchthaus riechen. Er zeigte sich von einer unerschöpflichen Gefälligkeit, blätterte für sie im Gesetzbuch, wies ihr gute Geldanlagen nach, behob mit Takt moralische Bedenken, empfahl ihr Lieferanten, hatte eine Antwort auf alle Fragen bereit, so verschieden und verwickelt sie auch sein mochten – das alles selbstverständlich, ohne den lieben Gott in die Angelegenheit hineinzuziehen und ohne zu trachten, irgendeinen Vorteil für sich oder die Religion daraus zu ziehen. Ein Danke und ein Lächeln genügten ihm. Er schien sich sehr wohl zu fühlen, wenn er dieser schönen Frau Quenu Gefälligkeiten erwies, von der seine Wirtschafterin mit Hochachtung als von einer im ganzen Viertel sehr geschätzten Person erzählte. An diesem Tage war das UmRatFragen besonders heikel. Es handelte sich darum, zu erfahren, welches Verhalten gegenüber ihrem Schwager ihr die Ehrbarkeit gebot, ob sie das Recht habe, ihn zu überwachen, ihn daran zu hindern, ihren Mann, ihre Tochter und sie selber in Gefahr zu bringen, und wie weit sie außerdem bei dringender Gefahr gehen könne. Sie fragte nicht roh nach diesen Dingen, sie stellte ihre Fragen mit so ausgesuchter Behutsamkeit, daß der Abbé das Thema erörtern konnte, ohne persönlich zu werden. Er war mit widersprechenden Argumenten angefüllt. Im ganzen genommen war er der Ansicht, eine gerechte Seele habe das Recht, ja sogar die Pflicht, das Böse zu verhindern, und es stehe ihr frei, die zum Siege des Guten erforderlichen Mittel anzuwenden.
»Dies ist meine Meinung, liebe Dame«, sagte er abschließend. »Die Frage der Mittel ist immer schwerwiegend. Die Mittel
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