Der Bauch von Paris - 3
kommen ein wenig spät … Aber man wird Ihren Schritt berücksichtigen; das verspreche ich Ihnen. Vor allem empfehlen Sie Ihrem Mann, sich nicht zu mucksen … Gewisse Umstände können eintreten …« Er sprach nicht zu Ende, grüßte leicht und erhob sich halb in seinem Sessel.
Damit war sie entlassen. Sie ging. Im Vorzimmer gewahrte sie Logre und Herrn Lebigre, die sich schnell umdrehten. Aber sie war noch verwirrter als die beiden. Sie durchquerte Säle und eilte Korridore entlang, war wie gefangen von dieser Welt der Polizei, von der sie sich in dieser Stunde einredete, daß sie alles sehe und alles wisse. Endlich kam sie heraus auf den Place Dauphine. Am Quai de l’Horloge ging sie langsam, erfrischt vom Hauch der Seine.
Am klarsten spürte sie das Unnütze ihres Schrittes. Ihr Mann lief keine Gefahr. Das war eine Erleichterung für sie, wenn auch ein Gewissensbiß zurückblieb in ihr. Sie war wütend auf diesen Auguste und alle diese Weiber, die sie soeben in eine lächerliche Lage gebracht hatten. Sie verlangsamte ihren Schritt noch mehr, sah zu, wie die Seine dahinfloß; Schleppkähne, die schwarz waren vor Kohlenstaub, zogen auf dem grünen Wasser stromab, während längs der Uferböschung Männer ihre Angelleinen auswarfen. Im ganzen genommen war nicht sie es, die Florent ausgeliefert hatte. Dieser Gedanke, der ihr jäh kam, setzte sie in Erstaunen. Würde sie eine böse Tat begangen haben, wenn sie ihn ausgeliefert hätte? Sie war ratlos und überrascht, daß ihr Gewissen sie hatte täuschen können. Die anonymen Briefe erschienen ihr sicherlich als etwas Gemeines. Sie dagegen ging rundheraus hin, nannte ihren Namen, rettete die ganze Welt. Als sie jäh an die Erbschaft des alten Gradelle dachte, ging sie mit sich zu Rate, fand sich bereit, das Geld in den Fluß zu werfen, falls das nötig sei, um die Fleischerei von diesem Unbehagen zu heilen. Nein, sie war nicht geizig, das Geld hatte sie nicht dazu getrieben. Als sie die Pont au Change überquerte, beruhigte sie sich völlig und fand ihr schönes Gleichgewicht wieder. Es war besser, daß ihr die andern auf der Präfektur zuvorgekommen waren: sie brauchte Quenu nicht zu hintergehen und würde besser deswegen schlafen.
»Hast du die Plätze bekommen?« fragte Quenu, als sie zurückkehrte. Er wollte sie sehen und ließ sich genau erklären, an welcher Stelle des Balkons sie sich befänden.
Lisa hatte geglaubt, die Polizei würde sofort, nachdem sie sie benachrichtigt hatte, herbeieilen, und ihr Plan, ins Theater zu gehen, war nur ein geschicktes Mittel gewesen, um ihren Mann fernzuhalten, während Florent verhaftet wurde. Sie beabsichtigte, ihn am Nachmittag zu einem Spaziergang zu drängen, zu einem jener freien Tage, wie sie sie sich mitunter nahmen: dann fuhren sie mit einer Droschke in den Bois de Boulogne62, speisten im Restaurant und blieben in irgendeinem Konzertcafé sitzen. Aber sie erachtete es für unnütz, das Haus zu verlassen. Den Tag verbrachte sie wie gewöhnlich mit rosiger Miene hinter ihrem Ladentisch, war fröhlicher und freundlicher, als sei sie von etwas genesen.
»Ich sage dir ja, daß dir die Luft guttut!« meinte Quenu mehrmals zu ihr. »Du siehst, dein Gang am Vormittag hat dich ganz und gar aufgeheitert.«
»Ach nein!« antwortete sie schließlich und setzte wieder ihre strenge Miene auf. »Die Straßen von Paris sind nicht so gut für die Gesundheit.«
Am Abend sahen sie im Théâtre de la Gaîté die Aufführung von der »Gnade Gottes«63. Quenu im Gehrock, mit grauen Handschuhen, sorgfältig gekämmt, war nur damit beschäftigt, im Programm die Namen der Schauspieler zu suchen. Lisa war prächtig mit nackter Brust und stützte ihre Fäuste, auf denen die zu engen weißen Handschuhe steckten, auf den roten Samt der Balkonbrüstung. Beide waren sie tief berührt von Maries Mißgeschicken; der Kommandeur war wirklich ein gemeiner Kerl, und der Pierrot brachte sie zum Lachen, sobald er die Bühne betrat. Die Fleischersfrau weinte. Die Abreise des Kindes, das Gebet in der jungfräulichen Kammer, die Rückkehr der armen Irren netzten Lisas schöne Augen mit heimlichen Tränen, die sie mit leichtem Tupfen ihres Taschentuchs abwischte. Dieser Abend aber wurde für sie zu einem wirklichen Triumph, als sie den Kopf hob und in der zweiten Galerie die Normande und ihre Mutter gewahrte. Da blähte sich die schöne Lisa noch mehr auf, schickte Quenu ans Büfett, ihr eine Schachtel braunen Zuckerkant zu holen, und spielte mit ihrem
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