Der Bauch von Paris - 3
wenn er es sich auch nicht klar eingestehen wollte. Aber er litt bei dem Gedanken an den Haß, der ihn soeben in diese Stube getrieben hatte. Er sah Augustes blasses Gesicht und die gesenkten Nasen der Fischhändlerinnen wieder; er erinnerte sich der Worte Mutter Méhudins, des Schweigens ihrer Tochter, des leeren Fleischerladens, und er sagte sich, daß die Markthallen mitschuldig seien, daß das ganze Viertel ihn ausliefere. Rings um ihn stieg der Dreck dieser schmierigen Straßen auf.
Als er inmitten dieser runden Gesichter, die blitzartig vorüberzogen, plötzlich das Bild Quenus heraufbeschwor, griff ihm eine tödliche Angst ans Herz.
»Los, gehen Sie runter«, sagte barsch ein Polizeibeamter.
Er stand auf und ging hinunter. Im dritten Stock bat er, ihn noch einmal zurückgehen zu lassen; er gab vor, etwas vergessen zu haben. Die Männer wollten nicht und stießen ihn. Er verlegte sich aufs Bitten. Er bot ihnen sogar etwas Geld an, das er bei sich hatte. Zwei willigten schließlich ein, ihn wieder in seine Stube zurückzuführen, und drohten, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen, wenn er versuchen sollte, ihnen einen bösen Streich zu spielen. Sie zogen ihre Revolver aus der Tasche. In der Stube ging er stracks auf den Käfig des Finken zu, nahm den Vogel heraus, küßte ihn zwischen die beiden Flügel und ließ ihn davonfliegen. Und er sah ihm zu, wie er sich in der Sonne wie benommen auf das Dach des Fischmarktes setzte und dann in einem zweiten Fluge über den Markthallen in Richtung des Square des Innocents verschwand. Angesichts des Himmels, des freien Himmels, verharrte Florent noch einen Augenblick, dachte an die gurrenden Ringeltauben in den Tuilerien und an die Tauben in den Verschlägen mit den von Marjolin zum Bersten vollgestopften Kröpfen. Dann zerbrach alles in ihm, und er folgte den Polizeibeamten, die achselzuckend ihre Revolver wieder in die Tasche steckten.
Unten an der Treppe blieb er vor der Tür stehen, durch die es in die Küche der Fleischerei ging. Der Kommissar, der ihn dort erwartete, war fast gerührt über seine folgsame Sanftmut und fragte ihn:
»Wollen Sie sich von Ihrem Bruder verabschieden?«
Er zögerte einen Augenblick. Er sah auf die Tür. Ein schrecklicher Lärm von Hackmessern und Kochtöpfen drang aus der Küche. Um ihren Mann zu beschäftigen, war Lisa auf den Gedanken gekommen, ihn die Blutwurst am Vormittag füllen zu lassen, die er gewöhnlich erst abends herstellte. Die Zwiebeln sangen auf dem Feuer, und Florent hörte Quenus vergnügte Stimme, die den Lärm übertönte, sagen:
»Ah! Hol’s der Teufel, die Blutwurst wird gut … Auguste, reichen Sie mir das Fett rüber!«
Florent dankte dem Kommissar; er fürchtete sich, in diese heiße, mit dem starken Geruch geschmorter Zwiebeln erfüllte Küche einzutreten. Er ging an der Tür vorbei, glücklich in dem Glauben, daß sein Bruder von nichts wisse, und beschleunigte seinen Schritt, um der Fleischerei einen letzten Kummer zu ersparen. Als ihm jedoch dann auf der Straße die helle Sonne ins Gesicht schien, überkam ihn Scham, und das Rückgrat gekrümmt und das Gesicht erdfahl, stieg er in die Droschke. Er spürte gegenüber den triumphierenden Fischmarkt, und es war ihm, als sei das ganze Viertel da und frohlocke.
»Ih, dieses abscheuliche Aussehen«, sagte Fräulein Saget.
»Das richtige Aussehen eines Sträflings, der auf frischer Tat erwischt worden ist«, fügte Frau Lecœur hinzu.
»Ich«, meinte die Sarriette und zeigte ihre weißen Zähne, »habe gesehen, wie ein Mann guillotiniert wurde, der ganz genauso ein Gesicht hatte.«
Sie waren näher gekommen und machten lange Hälse, um noch in die Droschke hineinzusehen. In dem Augenblick, da sich der Wagen in Bewegung setzte, zupfte die alte Jungfer schnell die beiden anderen an den Röcken und zeigte ihnen Claire, die wie wahnsinnig mit aufgelösten Haaren und blutigen Fingernägeln aus der Rue Pirouette kam. Sie hatte ihre Tür herausgebrochen. Als sie begriff, daß sie zu spät eintraf und man Florent schon fortbrachte, stürzte sie dem Wagen nach, blieb jedoch fast sogleich mit einer Gebärde ohnmächtiger Wut stehen und zeigte den enteilenden Rädern die Faust. Dann rannte sie, über und über rot unter dem feinen Gipsstaub, der sie bedeckte, in die Rue Pirouette zurück.
»Hat er ihr denn die Ehe versprochen?« rief lachend die Sarriette aus. »Sie ist verrückt, dieses dumme Frauenzimmer!«
Das Viertel beruhigte sich. Bis zum Schließen der
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