Der Bauch von Paris - 3
es ihnen, als bewegten sich die Fenstervorhänge, was sie einen Kampf vermuten ließ. Aber die Fassade des Hauses wahrte ihre schlaffe Gelassenheit; in unbeeinträchtigtem Frieden verstrich eine Viertelstunde, während der eine wachsende Erregung sie an der Kehle packte. Sie fielen fast in Ohnmacht, als ein Mann, der aus dem Hausflur trat, eine Droschke holen lief. Fünf Minuten später kam Gavard herunter, hinter ihm zwei Polizeibeamte. Lisa, die auf den Bürgersteig herausgekommen war, beeilte sich, in die Fleischerei zurückzugehen, als sie die Droschke gewahrte.
Gavard war bleich. Oben hatte man ihn durchsucht; man hatte die Pistole und die Schachtel mit den Patronen bei ihm gefunden. Bei der Barschheit des Kommissars, bei der Bewegung, die er machte, als er seinen Namen nannte, hielt sich Gavard für verloren. Das war ein schrecklicher Ausgang, an den er niemals kar gedacht hatte. Die Tuilerien würden ihm nicht verzeihen. Seine Beine knickten ein, als habe ihn das Exekutionskommando erwartet. Als er aber die Straße sah, fand er in seiner Prahlsucht genug Kraft, aufrecht zu gehen. Er hatte sogar ein letztes Lächeln, als er dachte, daß die Markthallen ihn sähen und er tapfer sterben werde.
Die Sarriette und Frau Lecœur waren inzwischen herbeigeeilt. Nachdem sie eine Aufklärung verlangt hatten, fing die Butterhändlerin an zu schluchzen, während die Nichte tiefbewegt ihren Onkel umarmte. Er hielt sie in seine Arme gepreßt, wobei er ihr einen Schlüssel zusteckte und ihr ins Ohr flüsterte:
»Nimm alles und verbrenne die Papiere.«
Er bestieg die Droschke mit dem Gesichtsausdruck, mit dem er das Schafott bestiegen hätte. Als der Wagen um die Ecke der Rue PierreLescot verschwunden war, bemerkte Frau Lecœur, wie die Sarriette versuchte, den Schlüssel in ihrer Tasche zu verstecken.
»Das ist unnütz, meine Kleine«, stieß sie zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor, »ich habe gesehen, daß er ihn dir in die Hand gesteckt hat … So wahr es nur einen Gott im Himmel gibt, werde ich zu ihm ins Gefängnis gehen und ihm alles sagen, wenn du nicht nett zu mir bist.«
»Aber, liebe Tante, ich bin doch nett«, antwortete die Sarriette mit verlegenem Lächeln.
»Dann wollen wir sofort in seine Wohnung gehen. Es verlohnt sich nicht, den Bütteln Zeit zu lassen, ihre Pfoten in seine Schränke zu stecken.«
Fräulein Saget, die ihnen mit flammenden Blicken zugehört hatte, folgte ihnen, lief mit der ganzen Länge ihrer kurzen Beine hinter ihnen her. Sie pfiff jetzt darauf, auf Florent zu warten. Von der Rue Rambuteau bis zur Rue de la Cossonnerie machte sie sich sehr demütig; sie war voller Gefälligkeit und erbot sich, als erste mit Frau Léonce, der Concierge, zu sprechen.
»Wir werden sehen, wir werden sehen«, wiederholte die Butterhändlerin kurz.
In der Tat mußten sie unterhandeln. Frau Léonce wollte die Damen nicht in die Wohnung ihres Mieters hinaufgehen lassen. Sie setzte eine sehr strenge Miene auf, schockiert durch das schlechtgebundene Brusttuch der Sarriette. Nachdem ihr aber die alte Jungfer einige Worte zugeflüstert und man ihr den Schlüssel gezeigt hatte, gab sie nach. Oben lieferte sie die Räume nur einen nach dem andern aus, empört und blutenden Herzens, als müsse sie selber den Dieben die Stelle zeigen, wo sein Geld versteckt war.
»Los, nehmen Sie alles«, schrie sie und warf sich in einen Sessel.
Die Sarriette versuchte schon den Schlüssel an allen Schränken. Frau Lecœur beobachtete sie mit argwöhnischer Miene von so nahe, saß ihr dermaßen auf der Pelle, daß sie zu ihr sagte:
»Aber liebe Tante, Sie behindern mich ja. Lassen Sie mir doch wenigstens die Arme frei.«
Endlich öffnete sich ein Schrank gegenüber dem Fenster zwischen Kamin und Bett. Die vier Frauen stießen einen leisen Seufzer aus. Auf dem Mittelbrett lagen etwa zehntausend Francs in Goldstücken, säuberlich in kleinen Rollen geordnet. Gavard, dessen Vermögen vorsichtigerweise bei einem Notar hinterlegt war, behielt diese Summe als Vorrat für den »tollen Schlag«. Wie er feierlich erklärte, hielt er seinen Beitrag zur Revolution bereit. Er hatte einige Wertpapiere verkauft, und an jedem Abend kostete er den besonderen Genuß aus, die zehntausend Francs unverwandt zu betrachten, und fand, sie sähen keck und aufrührerisch aus. In der Nacht träumte er, in einem Schrank werde gekämpft; er hörte da Gewehrschüsse, wie Pflastersteine herausgerissen wurden und rollten, lärmende und sieghafte
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