Der Baum des Lebens
Gefährten.
Nordwind wusste sehr wohl, dass ihm der junge Mann eben zum zweiten Mal das Leben gerettet hatte, und leckte ihm dankbar die Hände.
»Komm jetzt, Nordwind, ich habe dir viel zu erzählen.«
47
Ägyptens spiritueller Mittelpunkt, Abydos, versank zusehends in Schwermut. Vom Rest des Landes durch Wachen abgeschirmt, die alle zeitweiligen Priester peinlichst genau im Auge hatten, schien das Reich des Osiris für alle Zeiten des sanften Lichtes beraubt, das seine heiligen Gebäude früher belebt hatte.
Die ständige Priesterschaft, die der Pharao ernannt hatte, scheute dennoch keine Mühen und kam ihren Aufgaben ohne zu klagen nach. Ungeachtet seines hohen Alters und eines immer schwächer schlagenden Herzens begab sich der Hohepriester und Träger der goldenen Palette jeden Morgen zu der kranken Akazie.
Der Verfall war zwar aufgehalten worden, aber bisher war kein Anzeichen einer Gesundung zu erkennen. Würde Osiris wohl noch lange in dem Baum wohnen bleiben? Würde er weiterhin Himmel, Erde und Unterwelt vereinen? Tauchte er seine Wurzeln noch immer in den Ozean der Urkräfte?
Der alte Mann war nicht in der Lage, all diese Fragen zu beantworten. Ehe dieses Drama begonnen hatte, hatte er das friedliche Dasein eines Ritualisten geführt, der sich ausschließlich mit dem Feiern der Mysterien und ihrer Verkündigung beschäftigte. Die Tragödie, der er sich jetzt vollkommen hilflos ausgeliefert sah, hatte ihn ganz und gar unvorbereitet getroffen.
Immerhin hatte das große Bauvorhaben von Sesostris dazu geführt, dass ein Ast der Akazie wieder grün geworden und nicht weiter verdorrt war. An diese winzige Hoffnung klammerte sich der Träger der goldenen Palette und goss die Akazie jeden Tag mit Wasser und Milch.
Mit zunehmend unsicheren Schritten begab er sich an den Ort, wo die zum Stillschweigen verpflichteten Bauleute den Tempel und die ewige Ruhestätte für Sesostris errichteten.
An diesem Tag kam ihm der Weg noch mühsamer vor als sonst. Ein eisiger Wind fuhr ihm bis in die Knochen, und der Sand reizte seine Augen. Der Baumeister kam ihm entgegen und reichte ihm den Arm.
»Solltet Ihr Euch nicht ein wenig Ruhe gönnen?«, fragte er.
»In diesen schwierigen Zeiten darf niemand an sich selbst denken. Habt ihr Fleisch, Fisch und Gemüse bekommen?«
»Den Handwerkern fehlt es an nichts. Wir werden immer pünktlich und zuverlässig versorgt, und unsere Köche bereiten uns ausgezeichnetes Essen zu.«
»Eure Stimme klingt aber nicht so heiter, wie Ihr mich glauben machen wollt. Mit welchen Schwierigkeiten habt Ihr zu tun?«
»Es gibt eine Reihe von Zwischenfällen«, erklärte der Baumeister. »Werkzeug geht zu Bruch, ein Steinblock wurde im Steinbruch schlecht gehauen, die Leute verletzen sich oder werden krank… Man könnte schwören, eine finstere Macht versucht unsere Arbeit zu stören.«
»Und was unternehmt Ihr dagegen?«
»Wir begehen unser morgendliches Ritual, und die Mannschaft hält zusammen. Angesichts dieser heiklen Lage weiß jeder, dass er sich auf den anderen verlassen können muss. Es wäre vollkommen ungerechtfertigt, würde man irgendjemand beschuldigen, er mache etwas vor oder wäre unfähig. Im Gegenteil, wir müssen unter dem Schutz des Pharaos einig bleiben, denn diese Baustelle erfordert zehnmal mehr Anstrengungen als erwartet. Macht Euch keine Sorgen: Wir werden nicht klein beigeben.«
»Wenn ihr aufgebt, ist Abydos zum Tode verurteilt. Und sein Untergang würde den von ganz Ägypten nach sich ziehen.«
»Wir werden unseren Auftrag rechtzeitig ausführen.«
Der Träger der goldenen Palette ging nun langsam zum Tempel zurück und überzeugte sich davon, dass der Ritualist, dessen Tun geheim bleiben musste, die göttliche Wohnung in Ordnung gebracht hatte. Er überprüfte ebenfalls, ob derjenige, der den Auftrag hatte, einmal am Tag das Trankopfer über die Opfertische zu gießen, seine Sache richtig gemacht hatte. Das Gleiche galt für den Diener des ka, der den Ahnenkult feiern musste, und dessen Hilfe nun wichtiger war als je zuvor.
Einen Augenblick lang glaubte der Hohepriester, sein Herz würde stehen bleiben, und er musste sich setzen. Als er sich wieder ein wenig erholt hatte, setzte er seinen Gang fort und begab sich zum Grab des Osiris, vor dem ein Priester über die Unversehrtheit des göttlichen Leichnams wachte.
»Sind alle Siegel an ihrem Platz?«
»Ja.«
»Zeig sie mir.«
Der Oberpriester untersuchte sie und konnte nichts
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