Der Baum des Lebens
trat aus dem Blattwerk. Ihr langes weißes Kleid leuchtete strahlend.
Für einen kurzen, ganz kurzen Moment trafen sich ihre Blicke.
Sie war die Richtige, mit ihr konnte sich keine andere Frau messen.
»Du machst aber ein komisches Gesicht«, sagte der lange Lulatsch. »Wo bist du denn mit den Ochsen gewesen?«
»Bei den Weiden am Kanal.«
»Ach so, dann weiß ich schon, was los ist! Dann hast du wohl die Göttin gesehen. Da bist du nicht der Erste! Das Spiel aus Licht und Schatten gaukelt einem zwischen den Blättern das Bild einer wunderschönen Frau vor, von der die Viehhirten begeistert schwärmen. Leider ist es nur ein Trugbild.« Der lange Kerl sah ihn unverschämt an. »Kleine Blume ist dagegen sehr echt! Den Gerüchten nach ist sie in dich verliebt. Ist da was dran?«
»Gerüchte sind ein Gift, von dem sich niemand ernähren sollte«, entgegnete Iker nur.
»Noch so ein dummer Spruch! Mensch, Iker, du hast ja solches Glück! Kleine Blume – jeder träumt von ihr! Die Tochter vom Herrn, ist dir das eigentlich klar? Komm mit, wir kümmern uns um das Festmahl. Das Jahr beginnt ja wirklich fabelhaft.«
Mehrere Schilfhütten waren aufgestellt worden, um die Gäste vor der Sonne zu schützen. Die Kinder hörten nicht auf, die Köche zu ärgern, bis diese ihnen schließlich ein paar Kuchenstücke gaben.
Iker kümmerte sich nicht um die Aufregung und führte die Ochsen ungerührt in ihren Stall zurück.
Als er herauskam, stieß er mit Kleine Blume zusammen.
»Hast du nachgedacht?«, wollte sie wissen.
»Ja. Ich glaube, ich bin nicht in der Lage, dich glücklich zu machen.«
»Du täuschst dich, Iker!«
»Nein, Kleine Blume, du nimmst mich einfach viel zu wichtig.«
»Du bist anders als die anderen, und ich will eben nur dich.« Verärgert wandte sie sich von ihm ab und ging wieder zu ihrem Vater, der die Vorbereitungen für das Essen überwachte.
Ehe die Menschen ihren Hunger und Durst stillen durften, musste erst den Göttern Ehre erwiesen werden.
Deshalb erschienen zwanzig Opferträgerinnen und schmückten einen Altar mit Lebensmitteln, die für den Tempel bestimmt und der unsichtbaren Macht vorbehalten waren, die das Festmahl leitete. Die Priesterinnen trugen schwarze Perücken, eng anliegende, dicht mit blauen Perlen bestickte Gewänder, Armreifen und Fußkettchen, und eine war schöner als die andere.
Die Letzte aber stellte alle Übrigen in den Schatten.
Sie bewegte sich mit einer solchen Anmut, dass sogar sonst völlig ungerührte Männer von ihr hingerissen waren. Mit ihrer vornehmen Haltung, ihren unvergleichlich feinen Gesichtszügen und ihrer schlanken Gestalt wirkte sie wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, in der es wohl nur Vollkommenheit gab. Der göttliche Goldschmied hatte ihre Schönheit geschaffen, den Schwung ihrer Brauen gezogen und ihr Augen geschenkt, die wie der Morgenstern strahlten.
Ruhig und gelassen, als wäre sie allein in einem Tempel, schritt die junge Priesterin zum Altar und legte eine geöffnete Lotosblüte darauf.
So sollte der Duft des Jenseits die irdischen Vergnügungen der Menschen beherrschen.
Daraufhin zog sie sich mit einer Anmut zurück, die alle Zuschauer in ihren Bann schlug.
Als sie ganz nah an Iker vorbeikam, gab es für ihn keinen Zweifel mehr: Sie war die schöne Frau, die sich ihm in dem Weidenwäldchen gezeigt hatte.
16
»Wie geht es dir?«, fragte Kleine Blume Iker, der mit einem feuchten Tuch auf der Stirn auf seiner Schlafmatte lag.
»Mach bitte die Tür wieder zu, ich kann kein bisschen Licht ertragen.«
Kleine Blume wechselte die Bettwäsche. »Möchtest du vielleicht, dass ich dich massiere?«, fragte sie dann.
»Nein, danke, nicht nötig.«
»Das scheint ja wirklich eine sehr ernste Magenverstimmung zu sein.«
»Ja, es ist…«
»Ach hör doch auf, Iker, du bist ein schlechter Lügner! Außerdem habe ich dich beobachtet: Du hast fast nichts gegessen. Also bist du wohl kaum ans Bett gefesselt, weil du dir den Magen verdorben hast.«
»Und wenn schon, was macht das für einen Unterschied?«
»Das macht sehr wohl einen Unterschied! Warum bist du in diesem Zustand?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht.«
»Ich weiß es aber! Glaubst du vielleicht, ich hätte nicht gesehen, wie du sie angestarrt hast?«
»Von wem redest du überhaupt?«, wich Iker aus.
»Von dieser Priesterin, die alle Männer, vor allem aber du, mit ihren Blicken verschlungen haben! Dir traue ich sogar zu, dass du verliebt
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