Der Baum des Lebens
und krank auf einmal bist.«
»Das verstehst du einfach nicht, Kleine Blume«, sagte Iker.
»O doch, das verstehe ich nur zu gut! Aber es ist dumm von dir, dich in etwas zu versteigen, was vollkommen unerreichbar ist. Dieses Mädchen ist eine Priesterin, und sie lebt in einem Tempel, den sie nur zum Feiern solcher Rituale verlässt. Du siehst sie nie wieder.«
Iker richtete sich auf und fragte: »In welchem Tempel lebt sie?«
»Da sieht man ja, wie wenig sie dich interessiert! Aber das weiß kein Mensch, stell dir vor, und es ist auch besser so. Wach endlich auf und mach dir klar, dass ich kein Traum bin.«
»Lass mich in Ruhe, bitte.«
Iker versank wieder in seine Gedanken und sah den Augenblick noch einmal vor sich, als die junge Priesterin ihm ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er hätte sie ansprechen, nach ihrem Namen fragen oder irgendeine Geste machen müssen, zur Not auch eine lächerliche, um sie aufzuhalten. »War sie zum ersten Mal hier?«
»Zum ersten und zum letzten Mal.«
»Kleine Blume, du weißt bestimmt, wie sie heißt.«
»Es tut mir schrecklich Leid, aber da muss ich dich enttäuschen.«
»Irgendwer muss sie doch eingeladen haben, jemand, der mir etwas über sie sagen könnte!«
»Vergiss es. Und jetzt steh auf und geh an die Arbeit. Du kannst nicht erwarten, dass man dir diese Geschichte von dem verdorbenen Magen ewig abnimmt«, sagte Kleine Blume zornig. »Du hast eine Schuld abzuarbeiten, hoffentlich weißt du das noch.«
Wenn er sie nicht Wiedersehen würde, hatte sein Leben keinen Sinn mehr.
Nur kannte leider niemand den Namen der schönen Priesterin, zumindest hatte das die Tochter des Großbauern behauptet. Sie war wie eine wunderschöne Erscheinung bei einem Ritual aufgetaucht, und er konnte sie nur vergessen.
Aber Iker liebte sie, keine andere Frau würde ihn mehr interessieren. Wie viele Hindernisse dem auch im Weg stehen mochten, er musste sie unbedingt finden.
»Jetzt kommt der unangenehmste Augenblick im ganzen Jahr«, erklärte ihm der lange Kerl. »Die Steuerschreiber erscheinen und überprüfen, wie groß die verschiedenen Viehherden sind. Und da darf man sich keine Tricks erlauben, sonst gibt es eine Tracht Prügel und ein ordentliches Bußgeld. Und dann soll man auch noch freundlich mit diesen Backpfeifengesichtern umgehen!«
Die Schreiber setzten sich unter ein aufgespanntes Stoffdach, der Steuereinnehmer bekam ein Kissen. Iker fand seine überhebliche, selbstzufriedene Miene abstoßend.
Nun begannen Ochsen, Kühe, Esel, Schafe und Schweine einigermaßen geordnet an den Schreibern vorbeizuziehen.
Iker stellte sich unauffällig hinter einen der Schreiber, weil er sehen wollte, wie sie arbeiteten.
Der Steuereinnehmer, der sich keine Aufzeichnungen machte und sich das Ganze nur ansah, verlangte immer wieder nach frischem Bier. Als alle Tiere gezählt waren, rief er den Landwirt zu sich.
»Ich habe die Schätzungen meiner Leute überprüft«, erklärte er ihm kühl. »Von siebenhundert Krügen Honig schuldest du siebzig der Schatzmeisterei; und von siebzigtausend Säcken Getreide siebentausend.«
»Keiner hat mir gesagt, dass die Steuer angehoben wurde!«, sagte der Bauer erschrocken.
»Das habe ich hiermit getan.«
»Ich werde mich beim Provinzgericht beschweren!«
»Das ist dein gutes Recht, aber vergiss nicht, dass ich dem Gericht als Sachverständiger beisitze. Der Gesundheitszustand deiner Tiere ist meines Erachtens nicht zufrieden stellend. Wenn du dich weigerst zu zahlen, rufe ich die tierärztliche Aufsicht, und du wirst ein hohes Bußgeld zahlen müssen.«
»Glaubt diesem Dieb kein Wort!«, fuhr Iker dazwischen und wedelte mit dem Papyrus, den er einem Schreiber weggenommen hatte. »Schaut Euch lieber einmal diese Aufstellung an: Auf Befehl dieses Banditen zeichnen seine Untergebenen falsche Zahlen auf! Sie erhöhen die Zahl der Tiere, damit sie mehr Steuern einnehmen können.«
Die Oberlippe des Steuereinnehmers begann zu zucken, als er sich so ertappt fühlte.
Unter den Bauern regte sich lauter Unmut.
»Nehmt diesen Flegel fest!«, befahl der Beamte. »Begreift ihr denn nicht, dass er euch nur anlügt, um euch gegen die Behörden aufzubringen? Solltet ihr es wagen, mir solche Vorwürfe zu machen, wandert ihr alle ins Gefängnis.«
Die Lage schien eine Weile festgefahren.
»Macht keine Dummheiten, Leute«, ergriff schließlich der Lange das Wort. »Der Steuereinnehmer hat Recht. Außerdem ist das eine Angelegenheit zwischen ihm und
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