Der Baum des Lebens
Versteckspiel?«
»Habe ich dich schon einmal enttäuscht, Schiefmaul?«
»Nein, das nicht, aber…«
»Dann vertrau mir einfach weiter.«
Ein Späher, der vom Laufen völlig außer Atem war, blieb in gebührendem Abstand vor dem Propheten stehen.
»Sie kommen, Herr! Die ägyptischen Soldaten kommen, es sind Hunderte!«
»Beruhige dich, mein Guter. Habe ich es euch nicht gesagt? Alarmiert unsere Kämpfer, damit sie sich zur Verteidigung von Sichern bereitmachen. Gott wird ihnen zur Seite stehen.«
Dann rief der Prophet die einzelnen Zugführer auf dem Hauptplatz zusammen und schwor sie noch einmal auf ihre Vorgehensweise ein. Jeder musste bis zum Tod kämpfen. Ob als Sieger oder Besiegte, seine Getreuen würden ewige Glückseligkeit erlangen.
Die Befehlshaber der kleinen Befestigungen in den Mauern des Herrschers konnten den Göttern danken, dass sie noch am Leben waren. Der Pharao persönlich hatte sie versammelt und mit seinem Tadel und seinem eisigen Zorn bedacht, die schlimmer waren, als es irgendein lauter Ausbruch hätte sein können. Sie wurden zu unfähigen Nichtsnutzen erklärt, weil sie den Aufstand in Sichern weder vorhergesehen noch verhindert hatten. Deshalb rechneten sie damit, im besten Fall zu Zwangsarbeit in einer Strafkolonie in den Oasen verurteilt zu werden.
Sesostris war aber zu einem anderen Entschluss gekommen: Er wollte sie auf ihren Posten lassen, sie durften sich allerdings von nun an nicht mehr den kleinsten Fehler erlauben. Und dieser Stachel des Ansporns erwies sich als äußerst wirksam – er saß tief in der Haut dieser erfahrenen Soldaten, die sich in Sicherheit gewähnt hatten. Nachdem die Offiziere aus ihrer Erstarrung erwacht waren, hatten sie die Kontrollen um ein Vielfaches verschärft und ihre Leute dazu angetrieben, wieder zur ersten Sperre gegen jeden möglichen Angriff zu werden.
Sesostris’ Entschlossenheit wirkte wie Balsam auf die Seele seiner Soldaten. Voller Begeisterung wollten sie ihrem König dienen, der sich als eindrucksvolle Persönlichkeit gezeigt hatte.
Nachdem die Befestigungslinie wieder vollständig und lückenlos war, setzte sich der Pharao an die Spitze seiner Streitmacht und gab den Befehl zum Aufbruch nach Sichern.
»Gibt es noch immer keine Neuigkeiten aus dieser Stadt?«, fragte er General Nesmontu.
»Nein, Majestät. Dagegen befinden wir uns mit den übrigen Ansiedlungen in dieser Gegend in ganz normalem Austausch, was dafür spricht, dass der Aufstand örtlich begrenzt ist.«
»Das Aussehen eines Geschwürs lässt nicht immer darauf schließen, wie gefährlich es ist«, entgegnete der Herrscher.
»Schicke zehn Kundschafter los, sie sollen die Stadt von allen Seiten beobachten.«
Alle Berichte stimmten überein: Wachen der Kanaaniter waren an allen vier Hauptzugängen zur Stadt postiert.
»Die Stadt hat also tatsächlich den Aufstand geprobt«, schloss General Nesmontu. »Und unsere kleine Garnison gibt es vermutlich nicht mehr. Aber warum nur haben diese Aufwiegler nicht versucht, den Aufstand weiterzutragen?«
»Aus dem einfachen Grund, weil sie erst abwarten wollten, wie der Pharao darauf reagiert. Bevor wir Sichern zurückerobern, hast du dafür zu sorgen, dass alle Straßen, Wege und Pfade, die aus der Stadt führen, gesperrt werden. Ich erteile den Befehl, dass niemand entkommen darf. Sobald wir bereit sind, greifen wir an.«
Weil sie der Prophet überzeugt hatte, dass sie mit Gottes Hilfe den Angreifer zurückschlagen würden, stürzten sich die Einwohner von Sichern mit Gebrüll auf die Soldaten von Sesostris. Die erschraken zunächst vor der Angriffslust des Gegners, der nur mit bäuerlichen Gerätschaften bewaffnet war, und zogen sich sofort zurück. Doch General Nesmontu trieb sie an, und die Kanaaniter wurden bald überrollt.
Der Sieg zeichnete sich so schnell ab, dass Sesostris nicht persönlich eingreifen musste, aber der Verlust von dreißig seiner Soldaten zeigte, wie gnadenlos der Kampf gewesen war. Sogar Frauen und Jugendliche hatten lieber den Tod in Kauf genommen, als aufzugeben.
Als die Stadt wieder in ägyptischer Hand war, wurden nach und nach alle Häuser durchsucht, aber nirgends fand sich ein Waffenlager.
»Habt ihr schon den Anführer?«, fragte der Herrscher Nesmontu.
»Nein, noch nicht, Majestät.«
»Die Überlebenden müssen gründlich verhört werden.«
»Die Hälfte der Bevölkerung ist tot. Hier gibt es nur noch Greise, Kranke, Kinder und ein paar Frauen. Diese behaupten, ihre Männer
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