Der Beethoven-Fluch
noch fünf Minuten bis zum Solo der Oboe! Fünf Minuten, bis Sebastian den unwiderruflichen Schritt unternahm! Bevor er die uralte Flöte an die Lippen führte. Bevor er eine simple Melodie spielte. Und bevor er damit Gott weiß wie viele Ahnungslose ohne jede Vorwarnung in einen Strudel riss aus Angst und Not und Gedächtnisqualen.
“So machen Sie doch!”, flehte Meer den Sicherheitsposten an. Dann vernahm sie die für sie so grausigen Töne: Die letzte Sequenz vor dem Solo. Wenn das Orchester in diesem Tempo weiterspielte, würde die Zeit nicht reichen, um Sebastian noch aufzuhalten.
91. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 20:01 Uhr
“Yalom hat seit gestern Nachmittag nicht mehr vom Hotel aus telefoniert”, meldete Kerri. “Auch keinen Zimmerservice mehr bestellt. Der Hotelmanager hat nun doch endlich zurückgerufen. Er sagt, dass seit gestern etwa zwei Uhr mittags das ‘Bitte nicht stören’-Schild an der Tür hängt. Außerdem hat Yalom darum gebeten, keine Anrufe durchzustellen.”
“Das hört sich ja gar nicht gut an”, knurrte Paxton. “Setzen Sie sich mit der Polizei in Verbindung. Die möchten umgehend das Zimmer überprüfen. Vielleicht liegt er da – verletzt oder gar noch schlimmer.”
“Die Sinfonie ist aber gleich zu Ende …”, wandte Kerri ein.
Ihr Chef ließ sie gar nicht erst groß zu Wort kommen. “Ich glaube nicht, dass die Länge der Sinfonie hier eine Rolle spielt”, betonte er. “Der Mann steht bekanntermaßen auf einer Todesliste. Und wir sind womöglich die Einzigen, die wissen, dass er verschollen ist.”
Nickend klappte Kerri ihr Handy auf.
Paxton hielt Ausschau nach Vine, sah ihn aber nirgends. Also eilte er aus der provisorischen Schaltzentrale hinaus und fand seine Nummer zwei vor einem Monitor, über den er einen Checkpoint am Ende des Flurs beim Bühneneingang überwachte.
“Wo steckt Tucker Davis?”, wollte Paxton wissen.
“Der leitet die Teams, die gerade unten in dem bescheuerten Stollenlabyrinth rumkrabbeln.”
“Gut. Die Sinfonie muss jeden Moment zu Ende sein”, raunte der Chef unterdrückt, um keine Aufmerksamkeit bei den Umstehenden zu erregen. “Die Jungs sollen da unten weitersuchen bis zum letzten Applaus.” Er wusste nur zu gut, wie schnell eine Panik ausbrechen konnte, und die hätte ihm in einem beengten Raum mit über zweitausend Menschen gerade noch gefehlt. Damit nicht genug: Er sorgte sich um das Image, das sein Unternehmen abgab. Die Organisatoren der ISTA sollten auf keinen Fall den Eindruck gewinnen, er habe die Sicherheitslage womöglich nicht voll im Griff.
“Die da unten identifizierten Aktivitäten gehen alle darauf zurück, dass es in den unterirdischen Gängen von Ratten nur so wimmelt …”
Paxton unterbrach schon wieder. “Pfeif auf die Ratten! Ich weiß, das ist reine Spekulation, und da unten gibt es kilometerlange Stollen – aber wir vermissen eine Ladung Semtex und einen Reporter. Falls David Yalom genau hier unter uns als Geisel gefangen gehalten wird, müssen wir das in Erfahrung bringen und das Gebäude unverzüglich räumen lassen.”
92. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 20:02 Uhr
Die Oboe mit der linken Hand haltend, griff Sebastian auf der Bühne mit der Rechten in die Innentasche seines schwarzen Anzuges und zog ein kleines, zerbrechlich wirkendes Instrument heraus. Das Orchester spielte derweil die letzten Takte vor seinem Solo; noch stand er nicht im Brennpunkt. Nachdem er die Oboe unauffällig auf den Boden gelegt hatte, setzte er die aus der Jacke geholte Flöte an, wartete noch einen Takt ab und schaute erwartungsvoll zu seinem Dirigenten hinüber. Schon aus Achtung vor Twitschel wollte er den genauen Einsatz abpassen; diesen Respekt schuldete er sowohl Beethoven als auch seinem jetzigen Maestro.
Endlich richtete Twitschel den Taktstock auf seinen ersten Oboisten. Sekundenlang schwebte der elfenbeinfarbene Stab zitternd in der Luft. Der Dirigent kniff verblüfft die Augen zusammen; er vermisste das gewohnte schwarzsilberne Holzblasinstrument. Mit fragend gelupften Augenbrauen musterte Twitschel stumm seinen Solisten.
Sebastian ignorierte den Blick des Maestros, er kümmerte ihn nicht mehr. Ihn interessierte nur eines: dass die tausend Euro, die er dem Krankenpfleger versprochen hatte, auch tatsächlich sicherstellte, dass das Radio in Nicolas’ Zimmer eingeschaltet und auf den Kanal eingestellt war, der das Konzert in voller Länge übertrug. Das, was Sebastian nun zu spielen gedachte, sollte auch
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