Der Befehl aus dem Dunkel
nach München zu seiner Tante Mila.«
»Und dann weiter? Er wird doch nicht immer dort bleiben wollen?«
»O ja! Vorläufig will er dort bleiben. Das heißt nicht in München selbst, sondern im Almhaus der Tante Mila. Es liegt in den Bergen am Wilden Rain.«
»Ah, so! Er will Sommerfrische am Wilden Rain halten. Oder will er etwa dort auch arbeiten?«
»Wahrscheinlich beides«, sagte Anne lächelnd. »Georg kann ich mir ohne Arbeit gar nicht vorstellen.« —
Georg und Marian trafen sich, wie verabredet, bei Stennefeld, der vor den Toren der Stadt ein kleines Landhäuschen bewohnte. Sie nahmen von dem alten Mann herzlichen Abschied. Dann gingen sie um die Stadt herum durch die Parkanlagen dem Bahnhof zu. Als sie an einem großen Teich vorbeikamen, blieb Georg stehen und deutete auf die dunkle Wasserfläche.
»Heute sind es gerade sechs Jahre her, daß mein Bruder Jan an der Stelle hier die unselige Tat beging. Ich vergesse nie den Anblick, als man ihn für tot ins Haus brachte. Sein Selbstmordversuch damals, unter so unerklärlichen Umständen … Sonderbar, daß man nie so recht dahintergekommen ist, was dem blühenden, frohsinnigen Menschen die Waffe in die Hand drückte.
Gerüchte wollten wissen, daß Jan und sein Freund Rochus Arngrim in heftiger Leidenschaft zu Helene Escheloh entbrannt waren und Jan als der Verschmähte zur Pistole griff. Helene hat sich nie dazu geäußert. Das Auffällige bei der Sache war nur, daß zur selben Stunde Rochus Arngrim spurlos verschwand. Reisende wollen ihn noch am selben Tage an der belgischen Grenzstation gesehen haben. Daraus entstand jedenfalls bei manchem der Verdacht, daß die Kugel von Arngrim abgefeuert worden sei. Aber Jan hat das stets bestritten …«
Georg fühlte plötzlich, wie Marian seinen Arm umklammerte. Als ob er ein Gespenst sähe, starrte er zu einer Eiche in der Nähe des Teiches.
»… Du Georg! … Da steht er ja! … Arngrim … unter der großen Eiche … Und da ist die Bank … Und auf der Bank liegt eine Waffe … Und jetzt kommt Jan, und sie sprechen miteinander, und Jan setzt sich hin … Arngrim geht fort … Jetzt bleibt er hinter den Büschen stehen, sieht zu Jan hinüber … Jans Hand greift zu der Waffe … Er nimmt sie, legt sie wieder hin … nimmt sie wieder. Jetzt steht er auf, geht zum See, steigt in das Boot, rudert weit hinaus … Arngrim sieht ihm nach mit Augen … fürchterlich … entsetzlich. Und jetzt … Jan richtet die Waffe gegen seinen Kopf … schießt … fällt zurück ins Boot. Arngrim läuft fort … Jetzt ist er verschwunden … Jan? …«
Wie aus einer Vision erwacht sahen sie sich in die blassen, verzerrten Gesichter.
»Marian!« kam es heiser aus Georgs Munde, »was war das? Ein Traum, ein Gesicht?«
Der schüttelte den Kopf und begann stockend zu sprechen:
»All das Schreckliche, das dein geistiges Auge sah, dein Hirn empfand, drang von fern her in mein Bewußtsein. Wer hat es gedacht? Nur Arngrim selbst kann es gewesen sein. Nicht Jan. Was Jan tat, dessen war er sich ja selbst nicht bewußt …
Er folgte dem mächtigen Willen eines Stärkeren, der ihn in Gedanken zwang, sich selbst den Tod zu geben …
Heute, am Tage der Tat, mochte wohl Arngrim stärker als je an sein ruchloses Handeln erinnert sein. Noch einmal erlebte er, wie wahrscheinlich schon früher, heute sein Verbrechen. Seine Gedanken daran waren so stark, daß ich sie hier mitempfand. Und du, durch die gleichzeitige Erinnerung an jenen Tag und unsere Berührung mit mir eingestimmt, empfandest alles, was zu mir drang, mit. Jetzt wissen wir, wie das alles damals geschah.«
Georg blickte sinnend vor sich hin.
»Du magst recht haben, Marian«, sagte er dann, »das wäre eine Erklärung.
Rochus Arngrim … Wo mag er sein?«
*
Und noch ein anderer sah und hörte zur gleichen Stunde das Grausige in der gleichen Weise, wie es Georg und Marian vernahmen. Der Abt Turi Chan in seinem Gemach im Lamakloster am Himalaja. Und der, der mit stummen Lippen diesen Bericht gab, dessen Hirn jene Bilder in Erscheinung treten ließ, der Mönch Sifan, einst Rochus Arngrim, saß ein paar Türen weiter in seiner Klosterzelle; den Kopf in die Hände vergraben, durchlebte er noch einmal im Bann eines fremden Willens sein weltliches Leben und jenen Tag als dessen Abschluß. Durchlebte weiter alles, was danach kam. Die Flucht über die Grenze, von bitterer Reue gequält, die Fahrt über das weite Meer zu Indiens Küste. Die monatelange Wanderung mit einem
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