Der Befehl aus dem Dunkel
Lamapilger nach Norden, bis sich hinter dem Weltflüchtling das Tor von Gartoks Mauern schloß.
Sinnend saß der Abt. Das also war’s, was diesen Europäer hierhergebracht hatte. Die Flucht vor Gewissensqualen wegen jener Untat; der Wunsch, in läuterndem Leben die schwere Sünde zu sühnen. Damals, als der Weiße an die Pforte von Gartok pochte, hatte er ihn gefragt, was ihn, den Europäer, zu Buddhas Lehre und Glauben treibe. Der hatte ihm sein früheres Leben erzählt, von einer schweren Tat gesprochen, ohne Näheres darüber zu sagen. Jetzt hatte er mit Allgermissens Kunst erzwungen, daß der Mönch dunkelste Herzenskammern öffnete und seine Gedanken ausströmen ließ … zu des Abtes Gemach … in das Weltall … Ob es noch andere Menschen gab, die das vernommen hatten? …
Von seinen Gedanken stark bewegt, stand der Abt auf und ging mit großen Schritten durch das Gemach.
Vor einem Schrank blieb Turi Chan stehen, entnahm ihm ein Buch und kehrte zu seinem Sessel zurück. Er öffnete es und nahm einen Brief heraus. Die Schriftzüge waren kaum noch zu entziffern. Wasser mußte den Brief beschädigt haben. Doch der Abt las sie leicht, hatte er doch Brief und Buch gar viele Male gelesen.
Es waren die Schriftzüge Allgermissens, der diesen Brief an seinen Freund Rochus Arngrim geschrieben hatte. Der Brief begann mit Erinnerungen an die Zeit, wo Allgermissen und Arngrim in Riga einander kennengelernt hatten. Arngrim hatte während des Krieges viele Monate als Offizier im Hause Allgermissens in Quartier gelegen. Freundschaftliche Beziehungen … gemeinsames Interesse an okkultphysikalischen Dingen … Studien über die Raumstrahlungen des denkenden Hirns … Arngrim … Erbe der in dem Buch aufgezeichneten Entdeckungen … Tochter Lydia … ganz allein in der Welt … Ihrer Fürsorge …
Der Abt faltete das Papier zusammen und legte es wieder in das Buch zurück. Er wog das Buch in der Hand.
»Leicht bist du, und doch birgst du vielleicht Weltenschicksale!«
Wie würde sich vieler Menschen Los … das Geschick der Welt gestaltet haben, wenn Allgermissens Vermächtnis in die Hände gekommen wäre, für die es bestimmt war, in die Hände von Rochus Arngrim? … War er im Recht, wenn er diesem Mann das Erbe Allgermissens vorenthielt?
»Ich war im Recht! Die Götter haben es so gewollt, haben mir Sifans Haupt und Allgermissens Vermächtnis in die Hand gelegt. Wie sichtlich die Fügung des Himmlischen!« —
Als wäre es heute gewesen, stand der Tag vor ihm , an dem Allgermissens Hinterlassenschaft in das Kloster kam. Eine burätische Karawane stand drüben am Ufer des angeschwollenen Flusses und konnte den Übergang nicht finden. Der Mönch Sifan kam hinzu, wies ihnen die Furt, ritt voran. Da, in der Mitte des Flusses, strauchelte das Pferd eines Mädchens, geriet ins tiefe Wasser. Sifan sprang aus dem Sattel, wollte sie retten, wurde mit ihr in die todbringenden Wirbel gezogen.
Der Führer der Karawane schwang sich auf einen vorübertreibenden Baumstamm, lenkte ihn auf die mit dem Tode Kämpfenden zu und warf denen einen Strick hinüber. Auf einer Sandbank weit unten gelang es ihm, mit den Geretteten ans Ufer zu kommen. Von Mönchen, die herbeigeeilt, wurden das Mädchen und Sifan, die bewußtlos geworden, ins Kloster gebracht. Viele Tage kämpfte Sifan, von Fieberschauern geschüttelt, mit dem Tode.
Das Mädchen hatte man auf ein Lager gebettet. Als sie ihr den nassen Khalat, das Burätenkleid, abtaten, staunten sie, daß es ein europäisches Mädchen war. Eine Blechbüchse, die an einem Riemen um ihre Schulter hing, nahm Turi Chan an sich. Flußwasser war in sie eingedrungen. Er öffnete sie und sah, daß Papiere darin waren, die schon stark durch die Nässe gelitten hatten. In der Annahme, daß es wichtige Familienpapiere sein könnten, breitete der Abt sie zum Trocknen aus.
Es war ein Buch, von Hand geschrieben, alle Seiten gefüllt mit Zahlen, Skizzen und Erklärungen, und ein Brief, der in schon verschwommenen Zügen die Aufschrift trug: An Rochus Arngrim in Deutschland. Das mußte einer geschrieben haben, der noch nicht wußte, daß aus Rochus Arngrim schon seit Jahren der Mönch Sifan geworden war.
Überrascht überflog Turi Chan den halbtrockenen Brief. Der Name Allgermissen machte ihn neugierig. War doch vor Monaten eine dunkle Kunde zu ihm gedrungen von sonderbaren Vorgängen in Irkutsk bei General Iwanow. Er brachte die Papiere in sein Zimmer, las. Zuerst ungläubig … zweifelnd. War das, was
Weitere Kostenlose Bücher