Der Bernsteinring: Roman
Folgen sich daraus ergaben.
»Sie ist bescheiden und gehorsam, Ehrwürdige Mutter.«
»Sie ist es nach außen hin, Dionysia. Sie ist beinahe zu gehorsam, wenn man bedenkt, dass sie jetzt gerade mal siebzehn Jahre alt geworden ist. Sie schließt keine Freundschaften mit den anderen jungen Mädchen, sie trägt fast ausschließlich die schwarze Tracht, sie geht nie mit den anderen in die Stadt.«
Die Schreibmeisterin lehnte sich zurück, und über ihr fein geschnittenes Gesicht, über das sich die Haut wie dünnes Pergament spannte, huschte ein Lächeln.
»Worüber Ihr Euch immer jämmerlich beklagt.«
Auch die Äbtissin lächelte.
»Natürlich beklage ich mich darüber, wenn die mir anvertrauten jungen Frauen jede Ausrede nutzen, um über die Märkte zu schlendern, ihr Vermögen für weltlichen Tand verschwenden, den aufgeputzten Gecken heimliche Blicke zuwerfen und den sündigen Lustbarkeiten frönen.
Aber es ist natürlich, dass sie es tun. Es ist unnatürlich, dass diese Anna di Nezza es nicht tut.«
»Sie ist fremd in der Stadt. Sie könnte Angst haben. Die jüngeren Frauen und Mädchen, die sich derzeit hier aufhalten, sind, mit Verlaub gesagt, verzogene und hochnäsige Fratzen.«
»Nun ja, hochnäsig ist Anna nicht. Du kannst sie wahrscheinlich besser einschätzen als ich. Ich werde das Gefühl nicht los, sie verbirgt etwas vor uns.«
»O ja. Sie verbirgt etwas vor uns. Und ich habe auch herausgefunden, was es ist.«
Ida-Sophia richtete sich interessiert auf.
»Nun?«
»Einen überaus lebendigen Geist.«
»Den hat sie in der Tat gut versteckt gehalten. Ich hielt sie für ein wenig – töricht.«
»O nein, das ist sie gewisslich nicht. Aber sie hat ein kurioses Wissen angehäuft, von dem sie glaubt, wir billigen es nicht.«
»Und, billigen wir es nicht?«
»Die Lehre über den Einfluss der Gestirne können wir durchaus billigen. Selbst unsere großen Kirchenväter taten dies.«
»Dennoch ein ungewöhnliches Interesse für ein Mädchen. Hängt sie abergläubischen Praktiken an?« »Nein, Ehrwürdige Mutter, das tut sie nicht.« Die Äbtissin sann einen Moment nach und fragte dann: »Und woher bezog unsere Anna solches Wissen?« »Aus Büchern, wie mir scheint.«
»Sie ist also des Lesens kundig?«
»Und des Schreibens. Außerdem besitzt sie ein nicht unbeträchtliches Talent im Zeichnen. Das ist der Grund, warum ich um dieses Gespräch bat. Meine Augen werden nicht besser, Ehrwürdige Mutter, und meine Fingerschmerzen mich allzu oft. Die Striche der feinen Pinsel verschwimmen zusehends und verlieren an Exaktheit.«
»Du möchtest sie als deine Nachfolgerin ausbilden?«
»Ich habe meine Gabe immer als eine von Gott gegebene betrachtet und sie zu Seiner höheren Ehre eingesetzt. Doch auch sie hat die Fähigkeiten dafür. Sie wird auf meine Anweisungen willig arbeiten.«
»Du hast uns ein Psalterium von größter Schönheit geschenkt, Dionysia. Und wenn ich es richtig sehe, wird auch das Evangelistar, an dem du jetzt arbeitest, ein erlesenes Kunstwerk. Bist du dir wirklich sicher, dass sie deine Arbeit fortführen kann?«
»Sie kann es. Und später wird sie auch ihre eigenen Bilder entwerfen.«
»Nun, dann soll sie in deinem Skriptorium ihren Wirkungskreis haben.«
Anna freute sich aufrichtig, als sie von der Schreibmeisterin, die sie inzwischen liebevoll Mutter Dionysia nannte, hörte, welche Aufgaben sie in Zukunft übernehmen würde. Ihr früheres Leben vermisste sie nicht mehr. Mit großem Eifer machte sie sich jetzt daran, die Feinheiten der Buchmalerei zu erlernen. Sie mörserte blauen Azurit und grünen Malachit, roten Ocker und Zinnober, später auch das giftige, gelbe Auripigment und das ebenfalls giftige Bleiweiß. Sie lernte, mit dem kostbaren Purpur und dem Safran umzugehen und Blattgold auf den Untergrund aufzutragen. Sie stellte Dornentinte her und spitzte Federn an, durfte Satzstrichel anbringen und die ersten kleinen ornamentalen Zeilenfüller selbst gestalten.
Der Winter kam über die Stadt, brachte Frost und Schneestürme. Die Armen starben in den ungeheizten Unterkünften, die Kinder humpelten mit Frostbeulenan den Füßen durch die Gassen, und die Reichen zahlten Unsummen für Brennholz und Kohle. Die weißen Schneehauben der Dächer färbten sich schwarz vom Ruß, und die Eisschollen auf dem Rhein zermalmten die Boote der unvorsichtigen Fischer. Die Stiftsdamen gehörten zu den privilegierten Bewohnern der Stadt. Das Refektorium war geheizt, im Badehaus gab es
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