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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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»Und das bedeutet, meine gelehrte Schwester?« »Der Tod beendet nicht alles.«
    Sie sah mich mit großen Augen an. Ich wusste, was sie dachte. Julian hatte an die Möglichkeit der Wiedergeburt geglaubt. Und nachdem wir seine Geschichte aus der Römerzeit zusammengetragen hatten, erschien uns dieser Gedanke tatsächlich nicht mehr so ganz abwegig.
    »Es ist einerseits die Bedeutung der Inschrift, als auch ihre Art. Sie ist in den Innenring eingebracht, was erst im späten Mittelalter üblich wurde. Und sie ist in diesereckigen, gotischen Schrift gehalten, der Fraktur, der man sich nur bis etwa zum sechzehnten Jahrhundert bedient hat. Dieser Ring ist viel älter, als die Unterlagen bestätigen. Irgendjemand hat da schlampig gearbeitet, oder die Herkunft ist nicht exakt nachvollziehbar. Soweit ich sehen konnte, war er verschiedentlich in Privatbesitz und ist schon vor zwanzig Jahren über eine Konkursmasse an R&C gelangt. Ein echter Ladenhüter!«
    »Bis heute.« Sie nahm den Ring wieder an sich und schob ihn sich über den Ringfinger. Er war ihr zu groß. »Kein nervenerschütterndes Gefühl, Anita. Kein plötzliches Déjà-vu. Nur kühles Gold.«
    »Er war vermutlich, wenn ich meinen Traum richtig deute, auch der Ring der Anna Dennes. Diese Inschrift, der Spruch, dass der Tod nicht alles beendet, spielte in meinem Traum eine Rolle. Und mich hat der Ring schon in dem Geschäft sehr stark angezogen. So stark, dass ich nicht gewagt habe, ihn mir an den Finger zu stecken.«
    »Nun, dann tu es hier. Das ist der geeignete Ort dafür. Das da, wo sich jetzt dieser Kindergarten drin befindet, wird wohl das Stiftsgebäude sein, in dem Anna Dennes ihr Stundenbuch geschrieben hat.«
    Rose zeigte auf das Gebäude, das sich über die Ostseite des Kreuzgangs erstreckte. Etwas beklommen nahm ich den Ring aus ihrer Hand und streifte ihn über. Nichts geschah. Kein Schauder, kein Wiedererkennen. Keine noch so flüchtige Erscheinung aus vergangener Zeit. Ich strich das schwarze Gewand glatt und schüttelte den Kopf. Es musste ein Traum gewesen sein, in dem mir die Männer in den weißen, wallenden Gewändern begegnet waren. Oder ein Spuk. Ja, sicher ein Spukbild, das nicht mehr auftauchen würde, um meinen Seelenfrieden zu stören. Das mich gestern unfähig gemachthatte, durch den Kreuzgang zur Kirche zu gehen. Rosa erzählte ich besser nichts davon, sie würde sich nur wieder einen neuen Spott ausdenken. Ich ließ den Ring an der Hand, als ich aufstand, um mich den anderen Kanonissen anzuschließen und an den Gebeten zur Sext teilzunehmen.
    »Anita, wo willst du hin?«
    »Bitte?«
    Verdutzt sah ich die blonde Frau in dem flimmernden Sonnenlicht vor mir an.
    »Anita, wo bist du? Anita!«
    Sie griff meine Hand und zerrte an dem Bernsteinring. Das Licht hörte auf zu flimmern, als er von meinem Finger glitt. Ich atmete tief durch und war wieder Anahita Kaiser.
    »Das war verrückt, Rose. Das war ein absolut irres Gefühl.«
    »Er wirkt auf dich?«
    »Ich muss eine seltsame Erinnerung in mir tragen. Ich wollte zum Stundengebet gehen, traute mich aber nicht, an dieser Stelle weiterzugehen, weil ich tags zuvor einem Spuk begegnet bin. Männern in ungewöhnlichen, weißen Gewändern.«
    »Klar, hier war ja auch der Jupitertempel, das Kapitol. Die Geister der togatragenden Römer werden hier noch umgehen.«
    Es sollte spöttisch klingen, aber ich wusste, wie bewegt meine Schwester war.
    »Julian hat behauptet, menschliche Gefühle würden Spuren im Gewebe der Zeit hinterlassen«, sagte ich nachdenklich. »In Tempeln und Kirchen oder an anderen heiligen Orten seien sie besonders dicht und gelegentlich auch für uns spürbar. Wenn wir unser Bewusstsein dafür öffnen.«
    »Ja, das hat er mir genauso erklärt. Aber ich selbst habe so etwas noch nicht verspürt. Insbesondere im Augenblick nicht. Da habe ich nur das Gefühl großer Kälte an meinem Hinterteil. Komm, lass uns in diese Kirche gehen!«
    Sie stand auf, und ich musste ihr zustimmen. Obwohl es in der Sonne warm war, die steinernen Treppenstufen waren eisig, und die Kälte kroch durch meine dicke Jacke.
    Sankt Maria im Kapitol war eine große, wunderbar proportionierte romanische Kirche, die im Zweiten Weltkrieg beinahe bis auf die Grundmauern zerstört worden war. Aber man hatte sie wieder aufgebaut und äußerst feinsinnig restauriert. Rose, die Glaskünstlerin, stand staunend vor den Fenstern, und auch ich war begeistert von den flammenden, edelsteinbunten Rosetten hoch oben in den

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