Der Bernsteinring: Roman
Gewölben. Lange wanderten wir beide allein und schweigend durch die leere Kirche, ließen sie auf uns wirken und sammelten unsere Gedanken. An der Marienstatue mit dem Kind blieb ich eine Weile stehen. Mehrere rotbackige Äpfel lagen zu den Füßen der Madonna. Gaben von Menschen, die die Gottesmutter um Fürsprache baten.
Dann trafen Rose und ich am Ausgang wieder zusammen, und flüsternd, um die Stimmung nicht zu zerstören, sagte ich zu ihr: »Wir können mit der Geschichte beginnen, meine Schwester.«
»Ja, Anita, das können wir.«
Zufrieden und noch ganz erfüllt von der Stille gingen wir durch die belebte Stadt zurück zum Parkhaus. Dort erst gewann mein praktischer Verstand die Oberhand.
»Weißt du was, Rose? Ich bin mir inzwischen ganz sicher, dass Valerius nicht in der Innenstadt wohnt. Es waren zu viel Bäume zu sehen, und die Häuser standenfrei. Machen wir einen Besuch in den südlichen Außenbezirken.«
»Ja, das habe ich mir auch schon überlegt. Man wohnt, so man das Geld dafür hat, in Marienburg. Versuchen wir unser Glück.«
Wir versuchten es, aber Glück hatten wir nicht. Mein jämmerliches Erinnerungsvermögen fand keinen Anhaltspunkt, keinen markanten Platz, kein bestimmtes Gebäude, keine augenfälligen Geschäfte, die mir bekannt erschienen wären.
»Es ist unmöglich, Rose. Wenn er wenigstens in der Straße geparkt hätte. Aber er fuhr in eine Tiefgarage, und ich weiß nicht einmal, wie das Haus aussah. Meine Güte, Liebe macht wahrhaftig blind!«
Sie legte den Arm um mich und drückte mich leicht.
»Manchmal macht sie auch hellsichtig, sagt man. Wir müssen nur auf andere Weise weiter suchen. Was hältst du vom Straßenverkehrsamt?«
»Die Nummer K-VC schränkt die Summe der möglichen Kandidaten sicher schon mal auf tausend ein. Oder sind wir hier schon bei vierstelligen Zahlen?«
»Vielleicht gibt es nicht so viele Valeriusse darunter.«
»Es ist einen Versuch wert. Aber jetzt wollen wir nach Hause fahren. Wir haben zu tun!«, lachte ich ein wenig kläglich.
»Ja, es will heraus, nicht wahr? Wollen wir meine kleine Schwester wieder mit dazunehmen?«
»Cilly würde sich mehrere Beine dafür ausreißen. Natürlich kommt sie dazu.«
Und so begannen wir mit der Geschichte des Bernsteinrings, indem ich als Erstes meinen bunten Traum aus der Nacht nach der Operation erzählte, in dem Anna Dennes ihre Jungfernschaft an einen Unbekannten verkaufte unddafür den Bernsteinring erhielt. Als Vorlage diente mir dazu das mir bislang völlig ungeklärte Bild, das Anna Dennes der Vesper zugeordnet hatte. Es zeigte eine ordentliche Kammer, eine Bettstatt mit einem Kreuz darüber, ein Lesepult mit einem aufgeschlagenen Buch, ein offenes Fenster, die Rückenansicht eines rot gekleideten Mädchens, das hinaussah. Eine zweite, rundliche Frau stellte Weinpokale auf einen Tisch. Ihr Gesicht jedoch war nur im Spiegel an der Wand zu erkennen, und es hatte einen berechnenden Ausdruck. Wenn man mit dem Mädchen aus dem Fenster schaute, sah man einen Mann sich dem Haus nähern. »Von Sünden, die ich nicht kenne, mache mich rein.« Psalm 19 wurde darunter zitiert. Die Weidenzweige jedoch, die das Bild umrankten, waren kahl.
Als ich geendet hatte, brachte Cilly mir unaufgefordert ein großes Glas Weinschorle.
»Wer war der Mann, Anita?«, wollte sie wissen.
»Ich habe meine Vermutungen, aber ich denke, wir sollten uns mit Geduld wappnen, Cilly, und uns anhören, was Rose zu bieten hat.«
»Nun, ich denke, wir begeben uns jetzt einmal an einen übel beleumundeten Ort, eine Schenke, in der allerlei anrüchiges Volk verkehrt.«
Letum non
omnia finit
Nicht alles
endet mit dem Tod
8. Kapitel
In der Schenke
Über dem Feuer in dem großen Kamin hing der Kessel, in dem es leise brodelte. Es war eine gute, fette Suppe, Kohl war darin und Rüben, Erbsen und dicke Bohnen. Zwei Markknochen bewirkten eine kräftige Würze, wie auch die getrockneten Blätter von Liebstöckel und Majoran. Fleisch- und Wurstreste gaben ihr Gehalt, und zusammen mit den frischen, knusprigen Brotscheiben, die dick mit Schmalz bestrichen waren, konnte ein Gast sich an ihr reichlich satt essen. Horsels Schenke war bekannt für das herzhafte Essen und das schäumende Hopfenbier, das die Wirtin selbst zu brauen pflegte. Aber sie verlangte ihren Preis für diese Genüsse. Und so war das Volk, das sich an den nicht ganz reinlichen Holztischen versammelte, kein Gesindel, sondern ehrbare Handwerksburschen,
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