Der Bernsteinring: Roman
beziehst. Oder fürchtest du dich davor, die Kammer einer Verstorbenen zu bewohnen?«
»Nein, Ehrwürdige Mutter. Ich habe Mutter Dionysia von Herzen lieb gehabt. Ich will ihr Angedenken hochhalten und für sie beten. Wo besser als in ihrer Kammer.«
»Gut. Dann soll es so sein.«
»Verzeiht, Ehrwürdige Mutter. Da ist noch etwas.« »Ja, mein Kind?«
»Der kleine Betteljunge, der den Bären von uns gelockt hat... Ich würde ihm gerne danken. Etwas Gutes tun.«
»Das Ansinnen macht dir Ehre. Nur, wie willst du ihn finden?«
»Ich glaube, die Wirtin, zu der wir Dionysia gebracht haben, kennt ihn.«
»Na gut. Aber ich sehe es nicht gerne, dass du in diese Straßen gehst. Gesindel und fahrendes Volk haust da, es mag gefährlich für dich sein.«
»Ich werde nicht alleine gehen. Ich nehme Rosa mit.« »Oh, Rosa... Ist das die rechte Wahl, zwei junge Frauen?«
»Eine kräftige junge Frau mit flinken Füßen ist eine bessere Begleitung als eine alte, fußlahme Magd.«
Die Äbtissin gab diesem Argument nach, und so wanderten am selben Nachmittag Rosa und Anna zum Katzenbauch und besuchten Horsel in ihrer Schenke. Rosa hielt sich zurück und sah sich nur neugierig um, während Anna das Gespräch mit der Wirtin führte.
»Ich kenn die Göre. Sie treibt sich häufig hier herum. Lass die Finger von dem Pollacken-Bengel.«
»Der Junge war tapfer, Horsel. Und er wird sich um die Bärin grämen. Ich will sehen, ob ich ihm nicht helfen kann.«
»Helfen?«, schnaubte die Amme. »Wenn du dem Balg Geld gibst, werden es ihm seine Leute wegnehmen und versaufen.«
»Dann werde ich mir etwas anderes ausdenken. Wo wohnt der Junge?«
»Da gehst du besser nicht hin, Anna.«
»Horsel, die christliche Barmherzigkeit muss sich auch in tätiger Nächstenliebe zeigen. Übrigens – du steckst den hungrigen Kindern doch auch immer mal wieder einen Kanten Brot zu.«
Die Schenkenwirtin murrte leise und machte sich an dem Teigballen zu schaffen, den sie auf dem Tisch geknetet hatte. Vor drei Tagen war die alte Stiftsdame in ihrem Hinterzimmer gestorben und hatte für unliebsame Aufregung gesorgt. Jetzt war Anna, die vornehme Stiftsjungfer, schon wieder bei ihr aufgetaucht. Sie sollte sie eigentlich überhaupt nicht mehr kennen.
»Komm schon, wo finde ich das Kind?«
»Am Alten Graben, wo die Bettler und die polnischen Viehtreiber hausen. Der Bengel wird Vally gerufen. Aber, um der Liebe Christi willen, Anna, geh da nicht alleine hin! Auch nicht zusammen mit der da.« Ihr Kinn wies auf Rosa, die in einer halbdunklen Ecke stand.
»Dann gib uns jemanden mit. Einen deiner Knechte.« Horsel knurrte zwar weiter, lenkte dann aber ein. »Schon recht. Erwin ist zwar ein alter Nichtsnutz,
aber mit dem Prügel kann er noch umgehen.«
Und so besuchten Anna und Rosa in Begleitung eines knorrigen alten Gnoms, der mit einem massiven Knüppel bewaffnet war, eine der düstersten Gasse Kölns. Der stinkende Karren des Goldgräbers stand vor einer baufälligen Toreinfahrt, Kinder in schmierigen Fetzen balgten sich im Straßendreck, zwei Frauen mit bis zur Taille aufgeschürzten Röcken schrubbten stumpfsinnige graue Lumpen im schmuddeligen Wasser eines Waschzubers. Die Hütten der Bewohner hatten keine Fenster, die meisten Läden waren morsch, zwischen ihnen häuftesich der Unrat. Anna bewegte sich so vorsichtig wie es ging zwischen den Abfällen, dem herumlaufenden Federvieh und den übel riechenden Rinnsalen hindurch und wollte die beiden Frauen nach dem Kind fragen, als ein magerer Hund mit einem Bein im Maul ihren Weg kreuzte. Ein alter Schuh hing noch an dem Fuß und ein zerfetzter Lappen war um die Wade gewickelt. Doch darüber stand der weiße Knochen hervor. Erwin gab dem Hund einen Tritt. Der winselte und ließ seine nach Verwesung stinkende Beute vor Annas Füße fallen.
Sie würgte.
»Dem aale Joos sing Fooß!«, kommentierte Erwin. Als er sah, dass seine Begleiterinnen die Farbe abgestandenen Haferschleims angenommen hatte, erklärte er ihnen zuvorkommend, dass es sich um einen der Kalbsschlegel handelte, den der Bettler Joos gewöhnlich dazu verwendete, besonderes Mitleid bei den Kirchgängern zu wecken, indem er ihn durch geschickte Drapierung als seinen Unterschenkel ausgab, bis es der Erhaltungszustand nicht mehr weiter erlaubte. Dann erhielten die Straßenköter ihren Anteil daran.
Anna atmete tief durch, und Rosa kicherte.
»Frag die Weiber dort nach dem Jungen Vally«, befahl Anna dem knorrigen Gnom mit dem Prügel.
Erwin
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